27. Jahrgang | Nummer 24 | 18. November 2024

STRÖMUNGSABRISS

von Henry-Martin Klemt

Das Weltgewissen ist ein kollabierter

Cappuccino auf dem Bistrotisch. Die

aufgeschäumte Milch der frommen

Denkungsart hält nicht, was sie

versprach. Simone de Beauvoir

starrt auf ihr Smartphone. Jean-Paul

Sartre hat keine Follower mehr. Die

Menschheit büßt das Sorgerecht für

ihren Planeten ein. Auf der Straße

genießen Zechpreller den Herbst in

melancholischen Selbstgesprächen. Ich

schlachte mein Jahrhundert noch immer

aus, halte murmelnd den Schrott in

schmutzigen Händen: Das ist doch noch

gut. Das kann ich noch gebrauchen. Li-

teraturpreisträger und Bestsellerautoren

defilieren vorüber. Nicht Titel noch Namen

merke ich mir. Das postkulturelle Gebläse

konkurriert mit dem Geräusch anfahrender

Untergrundbahnen. Es stört den Schläfer

neben der Rolltreppe nicht. Alle Ausreise-

Anträge hat Gott archiviert, verstrichen die

letzte Bearbeitungsfrist. Wohin auch soll

ich mich wenden? In Trümmern

liegen die zerbrechlichen Schädel

der Kinder, von denen ich träumte. In

den Kantinen der Waffenfabriken werden

goldene Espressomaschinen aufgestellt.

Echter Arabico mit dem feinen Aroma von

Blut als Nahrungsergänzungsmittel der

westlichen Wertegemeinschaft. Antoine

de Saint-Exupéry schiebt den Putzwagen

durch die Gänge im Reichstag, klatscht den

Scheuerhader auf die Fliesen. Im Abwasser

macht sich Kokain aus dem Staub. Das

lässt sich messen, wie alles, außer

der Mordsgeduld, Schwester der

Weisheit und der Dummheit. Ingeborg

Bachmann rauchte zu viel. Brigitte

Reimann liebte zu viel und Simone

de Beauvoir kommt zurück, hat ihren

Autoschlüssel vergessen. Am Himmel

über Berlin dreht eine Cessna ihre letzte

Runde nach dem Strömungsabriss, schwebt

lautlos ein arbeitsloser

Engel davon.

Oktober 2024