27. Jahrgang | Nummer 25 | 2. Dezember 2024

In durchaus sportgemäßer Weise

von Dieter Naumann

Am 29. Juni 1895 veröffentlichte die Illustrirte Zeitung einen Bericht über ein „Damen-Velociped-Wettrennen in München“. Der Berichterstatter Maximilian Koch von Berneck konstatierte – offenbar nicht ohne Bauchschmerzen –, das schöne Geschlecht beginne sich in jüngster Zeit all jener Gebiete zu bemächtigen, auf denen der Mann bisher Alleinherrscher gewesen sei. Neuerdings betreibe es sogar männlichen Sport. Diese „Exercitien“ seien wohl mehr von „Nachäffungstrieb und Emancipationsgelüsten“ hervorgerufen.

Die Anfänge des Frauenradsports werden auf die 1870er Jahre datiert, als Frauen begannen, sich an Straßen- und Bahnradrennen zu beteiligen. Gegen radfahrende Frauen waren allerdings immer wieder Vorbehalte, Anfeindungen und tatsächliche oder vorgeschobene Befürchtungen geäußert worden. So gab es wegen der gespreizten Beinhaltung auf dem Rad den absurden Verdacht, dadurch könnte Onanie begünstigt werden. Ärzte befürchteten Geschwüre, andere Krankheiten oder gar Unfruchtbarkeit der Frauen. In einigen Radzeitschriften wurde diskutiert, ob das Radfahren die Frauen „männlich“ mache. Die Darstellung von Radfahrerinnen auf Werbeplakaten für Brennabor-, Mars-, Stoewer´s Greif-, Süderland- oder Naumann´s- Fahrräder war unter diesen Bedingungen nicht etwa ein Zeichen progressiver Haltung der Hersteller. Sie sollte vielmehr die problemlose Handhabung des Fahrrades „sogar“ durch Frauen demonstrieren. Immerhin kam man schließlich zu dem Schluss, das „normale“ Radfahren fördere – mit gehöriger Vorsicht und Vermeidung von Überanstrengungen ausgeübt – das körperliche Wohlbefinden und habe deshalb die Sympathien der Frauenwelt erobert.

Zum besagten Münchener „Damen-Velociped-Wettrennen“ hatten sich zwölf Damen gemeldet, in der Mehrzahl Mitglieder des Varietétheaters „Monachia“, dessen Direktor Ballé das Ganze arrangierte. Das zahlende Publikum bejubelte zwar die Wettkämpferinnen, sei aber wohl eher geneigt gewesen, das seltsame Schauspiel als Gaudi aufzufassen. Ausgetragen wurden ein 2000-Meter-Rennen, ein Rennen zwischen zwei Damen, ein Langsamfahren, ein Niederradfahren mit Vorgabe und ein Tandemfahren mit gemischten Damen-Herren-Mannschaften. Einige Damen, die die zwei Kilometer in nicht ganz vier Minuten absolvierten, erhielten Ehrenpreise. Dennoch, so der Berichterstatter, sei der Eindruck, den diese „Renndamen“ mit ihren vorgebeugten Körpern, geröteten Gesichtern und strampelnden Beinen trotz des kleidsamen Sportkostüms hinterließen, „nichts weniger als streng ästhetisch gewesen“.
Die ungeachtet dessen zunehmende Beteiligung von Frauen am Radsport hatte zwangsläufig Auswirkungen auf die Mode: Die bis dahin üblichen sittsamen langen Röcke und Korsetts waren beim Fahrradfahren äußerst hinderlich, die Röcke sogar gefährlich, wenn sie in die Kette oder die Speichen des Hinterrades gerieten. Noch bis ins 20. Jahrhundert waren Damenräder deshalb am Hinterrad mit einem Netz und das Ketten- und Zahnradgetriebe mit einer Abdeckung versehen. Die Frauen gingen trotz Kritik und Anfeindungen dazu über, ihre Röcke zu kürzen, das Korsett abzulegen oder praktische Hosenröcke und Pumphosen zu tragen. In der Stralsundischen Zeitung vom 29. Juli 1898 wurde auf einen Streit verwiesen, ob Hose oder Rock die geeignetste Kleidung für die radfahrende Dame wären. Am 31. Juli sollte diese Frage auf der Rennbahn Halensee (Berlin) durch einen Wettbewerb vorläufig entschieden werden. Preise im Wert von 150, 70 und 30 Mark wurden für die „geschmackvollsten, praktischsten und dezentesten Damenkostüme, aber auch die ganze Haltung der Damen auf dem Rad“ ausgelobt. Über die Gewinnerinnen berichtete die Zeitung nicht.

Nebenbei: Weil ein Fahrradhändler vor Gericht im Radfahrer-Kostüm erschien, wurde er wegen „Ungebühr“ zu einer Ordnungsstrafe verurteilt, die in nächster Instanz jedoch aufgehoben wurde, weil er von auswärts mit dem Rad zum Gerichtsort gekommen war (Stralsundische Zeitung vom 28. August 1898).
Findige Geschäftsleute erkannten den neuen Geschäftsbereich und boten Bekleidung für Radlerinnen an: Das Stralsunder Warenhaus von Bernhard Behr bewarb als „hochelegante Neuheit“ Radlerinnen-Schnürstiefel für 14 Mark, ein Stralsunder Geschäftshaus für Damenmoden annoncierte: „Neu aufgenommen: Radfahr-Costum“: Die Modelle „Blitz“ (Jackett, Rock und Hose aus Loden, grau, mode oder grün, das Stück 21 Mark) und „Strela“ (Jackett, Rock und Hose aus Wetter-Loden, marine oder grün, das Stück 29 Mark) wurden nach Maß gefertigt.

Am 10. Juli 1898 kündigte die Stralsundische Zeitung „ein eigenartiges sportliches Schauspiel“ im Berliner Sportpark Friedenau an: Auf der dortigen Rennbahn trainiere seit Wochen die bekannte Rennfahrerin Ellen Dutrieux. Auch Hélène Dutrieu (1877–1961) geschrieben, war sie eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Frau. Als Profi-Radrennfahrerin stellte sie 1895 den  Stundenweltrekord für Frauen hinter Schrittmacher auf; 1895, 1897 und 1898 wurde sie im belgischen Ostende inoffizielle Weltmeisterin im Sprint (1895 als erste Frau überhaupt). Dutrieux forderte die deutschen Rennfahrer in Berlin-Friedenau heraus. In einer nicht genannten Zeitung vermerkte ein Siegmund Feldmann 1913 unter dem Titel „Ein Lebensflug“ zum Ergebnis: „Match Dutrieu-Müller über 10 Kilometer. Sieger: Mlle. Dutrieu (13 Min. 35 Sek.).“ Die Herausforderung nahm auch Paul Mündner (1872–1934) an, der 1895 deutscher Meister im Steherrennen war. (Bei Wikipedia wird für das Berliner Rennen gegen Ellen Dutrieux allerdings fälschlich der 13. Juli 1895 genannt). Mündner habe das Rennen zwar gewonnen, sei aber des Lobes voll gegenüber seiner Konkurrentin gewesen. In anderen Quellen ist zu lesen, er habe Dutrieux aus Höflichkeit gewinnen lassen, was wohl zu bezweifeln ist. 1902 ging Mündner als Artist zum Zirkus und wurde der „berühmte Schleifenfahrer im Zirkus Busch, der das haarsträubende Experiment ausführt, mit seinem Rade zum Schluss der Schleifenfahrt einen 30 Fuß breiten Abgrund zu überspringen.“ Eine überraschende Parallele zu seiner vormaligen Gegnerin: Ellen Dutrieux hatte 1898 nach dem Gewinn des Grand Prix d’Europe und eines Zwölf-Tage-Rennens ihre Laufbahn als Rennfahrerin beendet und wurde ebenfalls Zirkusartistin. Berühmt wurde sie vor allem durch eine Radnummer mit mehreren Metern im freien Flug, die ihr den Beinamen „Fliegender Pfeil“ einbrachte. Da sie in Großbritannien das Patent auf den von Mündner genutzten Trick hatte, verklagte sie ihn wegen unerlaubter Anwendung auf 32.000 Mark Schadenersatz. Fortan übersprang Mündner nicht mehr den Abgrund, sondern sechs Elefanten.

Ab 1908 gehörte die Leidenschaft von Ellen Dutrieux der Fliegerei. Auch in diesem Bereich errang sie mehrere Preise, stellte Rekorde auf und beförderte 1910 als erste Frau einen Fluggast.

Nochmals zurück zum Rennen in Friedenau. Die Direktion der Berliner Sportparkgesellschaft sah sich wohl von einigen Bedenkenträgern gezwungen, eine Erklärung zur Teilnahme von Frauen abzugeben. In der Presse sei bereits viel über das Für und Wider geschrieben worden. „Selbstverständlich“ müsse man darauf Rücksicht nehmen, welche Damen die Rennen bestreiten und „in welcher Weise sich die Damen benehmen“. Die Direktion habe sich während der Trainingstage davon überzeugen können, dass „die Dame in durchaus sportgemäßer Weise fährt“ und sich deshalb entschlossen, Fräulein Dutrieux zuzulassen. Das Publikum könne daher selbst beurteilen, ob der Streit über die Zulassung von Damen zu den Radrennen berechtigt sei oder nicht.