Am 28. Januar 1812 wurde in Leipzig in der Grimmaischen Gasse eine Untat entdeckt. Zu dem hochbetagten Kaufmann und Eigentümer des Hauses Schmidt kommt an diesem Morgen zwischen zehn und elf Uhr ein dem Kaufmann unbekannter Mann – um die 40 Jahre alt. Jener ist angeblich von einem Hamburger Geschäftsmann empfohlen und will fragen, er ob sich ein Landgut oder sächsische Obligationen als Geldanlage kaufen solle. Schmidt rät daraufhin zu Leipziger Stadtobligationen.
Und er zeigt dem Unbekannten eine Leipziger Stadtobligation im Wert von 500 Talern, nachdem er sie aus seinem Schreibtisch geholt hatte, und legt sie wieder zurück. Im weiteren Gespräch präsentiert der Fremde eine silberne Schnupftabakdose und bietet dem Kaufmann eine Probe an. Schmidt schnupft und wird ohnmächtig.
Als er aus der Bewusstlosigkeit erwacht, blutet er stark am Kopf und schreit um Hilfe. Der Fremde ist aber fort. Schmidt durchsucht unter Qualen seine Sachen und stellt fest, dass elf Leipziger Stadtobligationen im Wert von 3.000 Talern fehlen.
Der Kaufmann lässt sich von seiner Ehefrau notdürftig verbinden und erstattet Anzeige. Die elf Obligationen waren aber sofort im Kontor des Bankgeschäftes Frege & Komp. verkauft und gegen den Kursbetrag in preußischen, sächsischen, braunschweigischen und französischen Louisdors und einen Teil Silbergeld umgewechselt worden. Der Unbekannte zählt das Geld in Ruhe nach, tauscht einige Geldstücke, die ihm missfallen. Er kommt sogar noch einmal zurück, weil er den Bankbeleg vergessen hatte.
Die Aussagen der Bankangestellten stimmen darin überein, dass der Verkäufer wie ein „modern gekleideter Landgeistlicher“ aussieht. Das hatte in etwa auch die Schmidt‘sche Hausbesorgerin bekundet, die dem Unbekannten auf der Treppe begegnet war.
Nachdem die Kopfverletzung des alten Mannes geheilt ist, stirbt er in der Nacht zum 6. April 1812 an seiner Schädelwunde. Die Obduzenten geben bei der Leichenöffnung ein übereinstimmendes Urteil ab. Die tödlichen Verletzungen seien durch ein spitzes Instrument, einen Spitzhammer verursacht worden. Der Raubmörder wird gesucht, aber nicht gefunden.
Ein Jahr später, im Januar 1813, wiederholt sich das in der gleichen Art. Am Abend um sieben Uhr meldet sich bei dem Amtmann Hoffmann in Suhl ein Amanuensis Lange aus Leipzig, der dann kundtut, dass er vom Appellationsrat Gröbel aus Dresden geschickt worden sei. Da der Amtmann seinen Schwiegersohn, den Bürgermeister Spangenberg, zu Besuch hat, muss Herr Lange in der Gesindestube warten. Der Diener Schlegel, seine Frau und eine Frau Heym raunen sich zu: „Das ist ja Magister Tinius, der früher in Heinrichs Pfarrer war und jetzt in Poserna bei Weißenfels das Predigeramt hat.“ Sein Aussehen hatte sich nur durch die Brille verändert.
Schlegel fragt: „Heißt er nicht Tinius? – „Nein, wer ist denn dieser Tinius?“ Dann wird er vorgelassen.
Auch bei Hoffmann stellt er sich als Lange aus Leipzig vor und wünscht, für einen Hamburger oder für Gröbel ein Gut in Theres kaufen zu wollen. Wegen des vielen Schnees ist eine Besichtigung aber nicht möglich, ein Nachtlager lehnt Lange ab, zumal auch der Amtmann ihn direkt fragt, ob er nicht Tinius sei – was dieser zögernd einräumt. Weitere merkwürdige Fälle mit einem unbekannten Besucher ereignen sich.
Am 5. Februar 2013, vormittags gegen neun Uhr, fragt ein Mann in einem Haus am Neumarkt in Leipzig nach der Eigentümerin Demoiselle Junius, die aber nicht zu sprechen ist. Der Hausmeister Stephan fertigt den Fremden in der Gesindestube ab, der erzählt, er sei ein Geistlicher, der wegen der marodierenden Truppen, die das Land durchziehen (vom 16. bis 19. Oktober 1813 wird die Völkerschlacht bei Leipzig gegen Napoleon stattfinden), einen sicheren Ort in Leipzig wegen seiner umfangreichen Bibliothek suche. Er werde dann ganz nach Leipzig umziehen. Aber leider, so die Auskunft des Hausmeisters, die Demoiselle habe „kein Quartier offen“.
Das Nachbarhaus gehört einem Dr. Kunitz, in dem vier Treppen hoch die Witwe Kunhardt, 75 Jahre alt, wohnt. Am 6. Februar begegnet dort im Treppenhaus die Kutscherfrau Vetterlein einen Mann, der sich nach Frau Kunhardt erkundigt. Frau Vetterlein begleitet ihn in den vierten Stock, als sich urplötzlich die Wohnungstür öffnet, weil die Dienstmagd der Witwe gerade den Boten des Brotbäckers hineinlässt.
Der Fremde ist sehr verlegen und meint, er wolle eigentlich zu Frau Dr. Kunitz. Aber, so die Magd, nicht bei Dr. Kunitz läutet er, sondern er geht aus dem Haus. Ein sehr sonderbares Verhalten.
Am 8. Februar 1813, morgens nach acht Uhr, ist die Magd von Frau Kunhardt unterwegs, um eine Flasche Wein zu kaufen. Als sie zurückkehrt, findet sie im Vorsaal ihre Herrin, die blutend und stöhnend an der Tür zur Stube lehnt. Die Witwe sagt, schwer verletzt, dass ein fremder Mann da war, der einen Brief hinterließ und sie mit einem Hammer an den Kopf schlug. Der Brief ist von einem Johann Gottfried Bröse aus Hohendorf unterzeichnet, der um ein Darlehen in Höhe von tausend Talern bittet. Der Schädel von Frau Kunhardt ist mehrfach zertrümmert; sie stirbt in der Nacht zum 10. Februar. Die Personenbeschreibungen passen wieder zu Tinius.
Am 4. März 1813 wird Tinius in Poserna verhaftet und nach Leipzig überführt. Man findet in seiner Wohnung zahlreiche Indizien, allerlei pseudonyme Briefe, zwei Hämmer (einen mit Papier um den Stil gewickelt), ein Tuch mit Blutflecken, eine ganze Registratur von Briefen mit falschen Adressen und Unterschriften, zahlreiche Dokumente, die belegen, dass er sich nach den Verhältnissen vermögender Leute erkundigte. Die Namen Bröse (unterschrieben der Brief an Frau Kunhardt) und Gröbel (unterschrieben der Brief an den Amtmann in Suhl) sind Namen, die in seiner 1813 gedruckten Autobiografie verwendet werden. Aus dem Gefängnis schreibt Tinius Briefe an Zeugen, die er beeinflussen will, nennt von sich aus die der Justiz noch gar nicht bewusste Möglichkeit, dass er vielleicht noch in die Schmidt‘sche Geschichte hineingezogen würde.
Er hatte weitere Bücher und sogar ganze Bibliotheken gekauft (am Ende waren es 60.000 Bände) und zum Teil mit artgleichen Münzen bezahlt, die er im Kontor des Bankgeschäfts Frege & Komp. in Leipzig erhalten hatte. Alles keine Beweise. Und ein Geständnis legt Tinius in seiner zwei Jahre dauernden sächsischen „Untersuchungshaft“ nicht ab – übrigens auch später nicht.
Durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses kam Poserna im Jahr 1815 zu Preußen, so dass sich auch die Zuständigkeit des Gerichts änderte. Aber erst einmal ermittelt man jahrelang ohne Geständnis weiter.
In der ersten Instanz wird Johann Georg Tinius, geboren am 1764 in Staakow, Niederlausitz, im Februar 1820 wegen Mordes an der Witwe Kunhardt zu achtzehn Jahren und wegen Unterschlagung von Kirchengeldern zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Wegen des Raubmordes an Schmidt wird er mangels Beweisen freigesprochen. Tinius legt 1823 Berufung ein, so dass in zweiter Instanz die Strafe für den Mord an der Witwe Kunhardt auf zehn Jahre herabgesetzt wird – unter Berücksichtigung der langen Untersuchungshaft und seines Alters.
1835 wird Tinius, 71 Jahre alt und mittellos, aus dem Zuchthaus entlassen, so dass er zeitweilig im Armenhaus Zeitz leben muss. 1840 zieht er dann nach Gräbendorf bei Königs Wusterhausen. Hier hat er Verwandte, die sich um ihn kümmern. Der Bibliomane stirbt daselbst am 24. September 1846.
Und was ist aus seinen Büchern geworden? Die äußerst wertvolle Bibliothek wurde 1821 beim Buchhändler, Auktionator und Verleger Johann August Gottlob Weigel in Leipzig versteigert, und sogar der Dichterfürst Goethe soll einige Bände erworben haben …
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