27. Jahrgang | Nummer 25 | 2. Dezember 2024

Die Tragödie des Carl Ferdinand Triest

von Detlef Jena

Heinrich Heines Satz in den Reisebildern von 1830, dass unter dem Grabstein jedes einzelnen Menschen eine ganze Weltgeschichte ruht, ist faszinierend. Doch wie man eine Biografie wirklich schreibt, das bleibt wahrlich ein weites Feld. Der Historiker geht erst einmal in ein Archiv. Da gibt es par exemple im Archiv der Universität Jena eine Akte über den Studenten Carl Ferdinand Louis Triest, geboren 1809 zu Rehfeld in der Neumark. Die Papiere vermerken, dass Triest im Mai 1834 auf Antrag des Dekans der Philosophischen Fakultät ohne Vorlage einer schriftlichen Arbeit und lediglich nach erfolgreicher mündlicher Prüfung zum Dr. phil. promoviert wurde. Als Begründung für diese Ausnahmeregelung gab die Fakultät an, dass der Kandidat blind war. Bei näherer Betrachtung besitzt der Casus zwar nicht gleich welthistorischen Anspruch, aber doch eine bedeutsame gesellschaftspolitische Dimension und sagt viel über die damaligen deutschen politischen Zustände aus.

Der Sohn eines reichen Grundbesitzers litt von Geburt an am Schwarzen Star, einer Amaurose, die mit nahezu vollständiger Blindheit verbunden war. Bis zum 14. Lebensjahr wurde der Junge von Hauslehrern unterrichtet. Der Vater konnte es sich leisten, ihn ab 1825 auf die Gymnasien nach Salzwedel und Stargard zu schicken. Mit der Unterstützung durch Hilfskräfte konnte der junge Mann sogar in den Jahren 1829 bis 1832 an der Universität Greifswald Philologie, Psychologie und Theologie studieren. Die Universität pflegte wissenschaftliche Traditionen der schwedischen Aufklärung und wurde seit 1815 in die Folgen der durch Wilhelm von Humboldt geprägten preußischen Universitätsreformen einbezogen. Triest wollte sich nicht nur schlechthin gesellschaftspolitisch engagieren. Er wollte sich selbst beweisen, dass er sich auch als blinder Mensch verwirklichen kann – wie es damals die besten deutschen Blindenlehrer forderten, zu denen auch der Direktor der Breslauer Blindenunterrichtsanstalt Johann Georg Knie gehörte.

Triest trat in Greifswald als Renonce und als ordentliches Mitglied in die studentische Burschenschaft der Arminia ein. Damit geriet er in den Fokus der antidemokratischen Demagogenverfolgung, die in allen deutschen Landen die Versuche national-liberaler Freiheitsbestrebungen nicht nur der Burschenschaften, sondern auch der Presse und der Universitäten zu ersticken suchte. Triest wagte dennoch den Schritt nach Jena, an den Gründungsort der Burschenschaften. Er fand dort 1834 mit der Promotion Anerkennung, blieb sich aber bewusst, wie fragil der Erfolg war – und wurde auch sehr schnell auf die Probe gestellt. Die Frankfurter Untersuchungsbehörde, die seit 1833 die Aufgabe hatte, alle „Komplotte“ aufzudecken, die sich gegen den Bestand und die öffentliche Ordnung im Deutschen Bund richteten, führte auch Triest in ihrem „Schwarzen Buch“ als Mitglied der Jenaer Burschenschaft.

Carl Triest fand zunächst eine Anstellung als unbezahlter Lehrer mit freiem Logis in Friedrich Fröbels Allgemeiner deutscher Bildungsanstalt in Keilhau bei Rudolstadt. Doch bereits am 9. Oktober 1834 wurde er in Jena über seine Mitgliedschaft in der Jenaer Burschenschaft verhört. Triest stritt generell ab, der Jenaer Arminia angehört zu haben. Die Kommission bohrte weiter. Am 12. Januar 1835 wurde Triest nach Stettin vorgeladen. Dort sollte er über die Mitwirkung in der Greifswalder Arminia aussagen. Wegen seiner Blindheit erfolgte das Verhör am 4. Juni 1835 in Naumburg und sollte dort am 30. August 1835 fortgesetzt werden.

Zwischen beiden Terminen hatte Triest eine denkwürdige Begegnung. Johann Georg Knie verfügte von Breslau aus über ein engmaschiges Verbindungsnetz zu allen wichtigen Politikern und Pädagogen, die in der Blindenbildung tätig waren. 1835 unternahm er einen kühnen Selbstversuch. Er reiste drei Monate alleine von Breslau über Wien, Dresden, Stuttgart bis nach Berlin und besuchte wichtige Einrichtungen und Persönlichkeiten, die sich einer modernen Blindenbildung verschrieben hatten. Knie verbrachte am 13. August 1835 einen Tag in Jena. Er wollte dort ein Konzert in der Stadtkirche St. Michael erleben und Freunde hatten ihm gesagt, er müsse sich unbedingt mit dem jungen Dr. Triest treffen.

Die Begegnung mit dem „wackern Schicksalsgefährten“, wie Knie in seinem Reisebericht schrieb, gelang und Knie war des Lobes voll: „Wohllaut der Sprache, geistige und körperliche Gewandheit, so wie das Lebhafte und Kräftige im Wesen des jugendlichen Mannes verbanden sich, einen wirklich angenehmen Eindruck auf mich zu machen.“ Knie bemerkte sofort, dass sich Triest nicht der bei Blinden üblichen Orientierungsmethoden durch den Tastsinn bediente, „doch hatte er die wesentlichsten Schwierigkeiten dieser Art durch sein nathürliches mathematisches Talent besiegt“. Knie wusste offensichtlich auch um Triests Engagement bei den Burschenschaften und betrachtete es kritisch. Indem er die vorsichtigen Worte wählte „…und wenn es mich bedenken wollte, als seyen Religion und Philosophie ihm auch nicht zur beruhigenden Einheit gediehen, so zweifle ich doch keineswegs, dass Geist und Herz ihm den richtigen Weg zwischen Scarylla und Charybdis hindurch werden finden lassen.“ Die Verwendung dieses der altgriechischen Mythologie entnommenen Doppelbegriffs charakterisierte in der modernen Umgangssprache ein Dilemma, dass man bei der Wahl zwischen Pest und Cholera niemals ohne Schaden herauskommt.

Triest ging auf Knies vorsichtige Kritik direkt ein und versuchte seine persönliche Begründung für die Mitwirkung bei den Burschenschaften zu formulieren. Knie notierte: „Offen gestand er mir, daß er sich wohler unter Sehenden, als unter Blinden fühle, und daß die Blindenanstalten, welche er besuchsweise kennen gelernt habe, einen durchaus ungünstigen Eindruck auf ihn gemacht hätten, so daß er selbst gar keine Neigung zum Blindenunterricht fühle.“ Er offenbarte sogar, dass er noch eine ganz geringe Spur von Sehkraft besäße, die es ihm erlaubte, gewisse Farben oder Umrisse von Bergen zu erkennen.

Darum wagten die beiden auch einen Ausflug in den Jenaer Paradiespark. Im bunten Treiben des öffentlichen Konzerts wollten sie sich weiter über ihre ernsten Themen unterhalten, ohne in der wuselnden Volksmenge weiter aufzufallen. Sie machten allerdings die Rechnung ohne die Organisatoren des großen Festes. Es gab reichlich Menschen und Musik im Paradies, aber es mangelte an Tischen, Stühlen und Bänken, so „daß Tausende wie irrende Schafe auf dem holprichen Erdreich umherstolperten. Auch an Gläsern und Getränken fehlte es im gleichen Maße, und von Musik und Liedern konnte man in einiger Entfernung vor dem Gesumme und Gebrumme der plaudernden, gaffenden und herumwogenden Menge kaum noch einzelne der mächtigsten Schallwellen vernehmen.“ Nein, das war kein Konzert nach dem Wunsch der beiden Blinden, die sich so viel zu sagen hatten. Nach einer „fast langweilig vertrippelten Stunde“ traten sie den Rückweg an und fanden im städtischen Ratskeller den Ort, den sie benötigten, um über ihre besondere soziale Stellung in der Gesellschaft zu sprechen.

Bereits in der folgenden Nacht reiste Knie aus Jena ab. Über Erfurt, Halle, Potsdam und Berlin kehrte er nach Breslau zurück und schrieb die Erlebnisse seiner „Pädagogischen Reise durch Deutschland“ in einem bemerkenswerten Text nieder, der 1837 veröffentlicht wurde.

Triest und Knie haben sich niemals wiedergesehen. Triest trat am 30. August 1835 in Naumburg zum zweiten Verhör über seine Tätigkeit in der Greifswalder Burschenschaft an. Danach verfasste die Untersuchungskommission eine „Verteidigungsschrift“ und bereitete zugleich eine Anklageschrift gegen Triest vor. Zu einer gerichtlichen Verhandlung ist es nicht mehr gekommen. Am 30. Juni 1836 verstarb der junge unbezahlte blinde Lehrer Carl Triest in Keilhau bei Rudolstadt. Vergessen ist er nicht. Das Lexikon der Deutschen Burschenschaften erwähnt ihn. Aber das anschaulichste Portrait stammt kurz und prägnant von dem Breslauer Blindenlehrer Knie. Der hatte seine Informationen über Triest sicherlich von dem in Weimar geborenen Freiherrn Fritz von Stein, einstmals der vielgeliebte und verhätschelte Ziehsohn Goethes. Doch das ist schon wieder eine andere Geschichte …