Von Leipzig und seinen Griechen ist zu reden. Vorweg gebührt da zwingend Herrn von Goethe das Wort: Der traf auf dem Markt „jene Bewohner der östlichen Gegenden, die Polen und Russen, vor allem aber die Griechen, deren ansehnlichen Gestalten und würdigen Kleidungen ich oft zu Gefallen ging“. Die da mit ihren Waren ihr Glück in der Messestadt suchten (ihr Handelsprivileg datiert von 1667, dem Jahr neunzehn nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs), müssen auf die braven Bürger einigermaßen exotisch gewirkt haben. Eine feste Niederlassung, das „Griechenhaus“, mitten in der Stadt, in der Katharinenstraße, gab es seit etwa 1700. Griechen waren fortan nicht mehr nur „Messfremde“ – seit jeher und noch immer an den Ufern der Pleiße eine positiv konnotierte Vokabel –, sondern gewissermaßen Einheimische.
Wie verträgt es sich miteinander, in einer fremden Stadt heimisch und der eigentlichen Heimat entrückt zu sein? In dem „Zwischen Heimat und Fremde“ betitelten Buch von Kostas Kipuros und Susanne Grütz sind Stimmen der zu Ende des griechischen Bürgerkriegs (1946-1949) aus ihrem Land Geflohenen gesammelt. Als Kinder gekommen, haben sie über Jahre und Jahrzehnte in der Sachsenmetropole gelebt, der eine oder die andere sogar über die Wende hinweg. Zu lesen sind insgesamt 27 Beiträge, die zumeist auf Grundlage von Interviews der heutigen Eltern- oder Großelterngeneration entstanden. Die hier Auskunft geben sind Facharbeiter (nur einige wenige), zahlreiche Techniker und Ingenieure, ein Lehrer, mehrere Ärzte, zwei Professoren, Freiberufler. Der Anteil von Frauen und Männern ist halbwegs gleich. Für alle, wohl für die Frauen mehr als für die Männer, stellt sich die eher rhetorische Frage: Wäre mein Leben ähnlich verlaufen, wenn ich damals in meiner Heimat hätte bleiben können? Theodora Afendoulidou, 1935 in Lefkimi/Evros geboren, wäre dort ebenfalls Technikerin für Schwermaschinenbau geworden? – ist schließlich ein typisch weiblicher Beruf, zumal in einem Land, an dem „die industrielle Revolution vorbeigegangen war.“ (Horst Brie)
Wer ein gewisses Alter erreicht hat, fängt erfahrungsgemäß irgendwann an, in den frühesten und am tiefsten sitzenden Erinnerungen herumzukramen. Es macht einigermaßen fassungslos, was sich da an erlittenen Qualen und überstandener Not überdeutlich im Gedächtnis festgesetzt hat und bei dieser Gelegenheit zutage gefördert wird, und zwar ohne irgendeinen Jeremiadenton. Hätte doch jeder der nach Leipzig Gelangten andersherum auch unter griechischer Sonne und königlicher Fürsorge in einem Umerziehungslager landen können. Als Die Zeit 1991 einen früheren, unterirdischen Artikel wieder abdruckte, in dem das Schicksal griechischer Partisanenkinder verharmlost worden war, schrieb Asteris Kutulas, ehemals Meisterschüler des Leipziger Germanisten Claus Träger, in seinem Protestbrief an die Herausgeberin der Wochenzeitung: „Übrigens haben französische Intellektuelle um Aragon und Picasso bereits Ende der vierziger Jahre die Praktiken in den griechischen ,Umerziehungslagern‘ angeprangert und das königliche Ehepaar deswegen angegriffen, aber auch Bertolt Brecht und Stephan Hermlin forderten die Auflösung dieser Lager in Griechenland.“ Und tue nur niemand dieses Thema einfach ab: Nun ja, das waren eben die leidigen, zum Glück längst überwundenen griechischen Verhältnisse von vorvorgestern. Mitnichten! Am 1. Oktober 2024 veröffentlichte das Landesarchiv Baden-Württemberg den mit beachtlichem Aufwand erstellten Abschlussbericht der Projektgruppe „Aufarbeitung Kinderverschickung“, wo es heißt, dass nach dem Krieg Millionen Kinder – wohlgemerkt: deutsche Kinder – zur Kur geschickt und dort vielfach systematisch gequält, manche sogar für Medikamententests missbraucht wurden. Nun haben beides, Umerziehungslager und Kinderverschickung, gewiss nichts miteinander zu tun. Für Kindesschutz und Einhaltung von Kinderrechten darf keine Einschränkung gelten. Die Flüchtlingsschicksale der griechischen Partisanenkinder sind Mahnung.
Wie Kostas Kipuros (Jahrgang 1955), Leipziger Urgestein, in seiner die geschichtlichen Hintergründe des Bürgerkriegs umreißenden Einleitung schreibt, „löste die Erinnerung an die kurze Kindheit in Griechenland die stärksten Emotionen aus“. Man mag es nicht glauben, wie dennoch und wie schnell bei allen Hindernissen, zum Beispiel in der fremden Sprache zunächst lesen und schreiben lernen zu müssen, feste Bindungen zur neuen Heimat erwachsen konnten. Dass Leipzig als die Stadt mit einem offenen Klima gilt, ist denen allen zu verdanken, die Integration als ihre Herzenssache begriffen haben. Die Leipziger Griechen bringen aus unterschiedlichstem Anlass ihre Dankbarkeit für die ihnen bewiesene Akzeptanz zum Ausdruck, wo doch andersherum ihnen dafür zu danken wäre, dass sie das ihnen eigene Flair in die Stadt gebracht haben. Es ist hier nicht der Punkt, groß aufzuzählen, wodurch seit den 1950er Jahren die Farben in der Stadt immerhin auch ein wenig blauweiß aufstrahlten: an der Uni unterrichteten Muttersprachler Neugriechisch, griechische Musik (Axion esti) und griechische Solisten waren im Gewandhaus zu erleben, Partituren neuer Musik (Mikis Theodorakis) sind bei Breitkopf & Haertel erschienen, die Uni verlieh die Ehrendoktorwürde an Jannis Ritsos, Autorenlesungen im Gohliser Schlösschen, umfangreich die Liste antiker griechische Autoren beim Teubner-Verlag, zeitgenössische Autoren (Ritsos, Seferis, Elytis, Ludemis, Kazantzakis) bei Reclam, Insel, Dieterich.
Längst machen die hiesigen Griechen ihren ewige Zeit unrealistischen Neujahrstoast „Und nächstes Jahr in der Heimat!“ wahr, eingestandenermaßen mit diversen Wenns und Abers und auf unterschiedlichste Art und Weise. Eine Würdigung ihrer Lebensleistung kommt mit diesem Buch spät, wird jedoch in den längst nicht abgeschlossenen Kontroversen über den griechischen Bürgerkrieg Beachtung finden – und zwar hilfreich nicht zuletzt auch dank seiner Zweisprachigkeit. Gleiches gilt für die von einem Historikerteam der Universität Korfu im Anhang zusammengestellte Literaturübersicht und den Dokumentarfilm gleichen Titels wie das Buch. Die ausgewählten Fotos bestätigen, worum es im Buch geht: „Ansehnliche Gestalten in würdigen Kleidungen“.
Kostas Kipuros, Susanne Grütz: Zwischen Heimat und Fremde. Die Geschichte der Flüchtlinge des Griechischen Bürgerkriegs (1946-1949) in Leipzig/Sachsen. (Deutsch/Griechisch) Verlag der Griechenlandzeitung. Athen 2024, 311 Seiten, 24,80 Euro.
Schlagwörter: Bürgerkrieg, Flüchtlinge, Griechenland, Horst Möller, Kostas Kipuros, Leipzig, Susanne Grütz