27. Jahrgang | Nummer 21 | 7. Oktober 2024

Zwischen Spätsommer und Frühherbst

von Renate Hoffmann

Oktober, schreibt die englische Autorin und geschätzte Gärtnerin Vita Sackville-West, sei der feurige Nachsommer. Noch zögert der Monat in diesem Jahr mit dem zu erwartenden Farbenspiel, doch zeigt die Natur schon untrügliche Vorgänge. Schlehdorn und Heckenrosen tragen Früchte. Und die Ebereschen prahlen mit dem Gelb-Orange ihrer Beeren. Feine Nebel begleiten den Morgen und zerfließen in der blassen Mittagssonne. Einige Rosen und spätsommerliches Geblühe finden sich noch im Garten. Den Zugvögeln steht der Sinn nach der großen Reise.

 

Die Stare treibt die Unruhzeit,

sie kreisen und sie kreisen.

Sie suchen, denn es ist so weit,

die Route zum Verreisen.

 

Die Alten kennen sie genau,

Die Jungen woll’n nach Norden.

Sie sind, wie häufig, überschlau,

dort sei’s jetzt warm geworden.

 

Um nun die Streitigkeit zu enden,

setzt sich die Schar auf einen Baum.

Dort sollte sich das Blättchen wenden.

Doch was geschah, das glaubt man kaum.

 

Die Äste hängen voller Beeren,

von denen sich die Stare nähren,

und als sie sich recht satt gefressen,

ist der Reiseplan vergessen.

 

Sie sitzen friedlich im Holunder.

Gefährlich wird’s nur unten drunter …

 

Wohlmeinender Hinweis: um einen von Vögeln besetzten Holunder mache man tunlichst einen Bogen. Wohlmeinende Richtigstellung: Holunderbeeren sind keine Beeren, sondern Steinfrüchte.

„Moschuskrautgewächse“ stehen im botanischen System für die Familienzugehörigkeit der Pflanze, und die Gattung lautet schlicht „Holunder“, wissenschaftlich eindrucksvoller: „Sambucus“. Diese Gattung verfügt, über die Kontinente verteilt, über mehr als 20 Arten. Drei von ihnen gedeihen besonders gut in Mitteleuropa: Der Schwarze -, der Rote – und der Zwergholunder (Sambucus nigra, racemosa und ebulus). Volkstümlich-freundlicher verbergen sich dahinter – lokal bedingt – noch weitere Namen: Holler oder Hollerbusch, Fliederbeerbaum, Holder oder Holderbusch, Attich und Elderbaum.

Fragt man nach der Wuchsfreudigkeit, so bringt es der „Schwarze“ bis zur Baumhöhe (etwa zehn Meter), „der Rote“ wird ein Bäumchen, (etwa vier Meter) und der „Zwerg“ bleibt ein Strauch. – Allen dreien ist die Anspruchslosigkeit hinsichtlich des Klimas und der Bodenbeschaffenheit zu eigen. Sie bevorzugen zwar einen sonnigen Standort, fühlen sich aber auch in einer schattigen Gegend wohl. – Zweimal im Jahr beglückt der Holunder Mensch und Tier. Im Frühling mit seinem bezaubernden elfenbeinfarbenen Blütenschleier. Und im Herbst mit dunkelvioletten Beeren. Das Prädikat, Kultur- und Heilpflanze seit alters her zu sein, ist wohlverdient.

Die Blütenpracht des „Hollerbuschs“ ist nicht nur eine Augenweide, sie ist Genuss- und Heilmittel gleichermaßen. Aus den schirmartigen Dolden lassen sich Sirup und Gelee gewinnen, und mit einigem gastronomischen Geschick kann man „Hollerküchel“ als delikate Nachspeise auf den Tisch bringen (die Dolden in Eierkuchenteig tauchen und in neutralem Fett ausbacken).

„Fliedertee“ gilt als Favorit in der naturnahen Heilkunde. Er sorgt für Linderung bei Erkältungskrankheiten, ist gut geeignet für eine Schwitzkur und soll fiebersenkend wirken.

Von den Holunderbeeren ist zu vermelden, dass aus ihnen Saft, „Fliedersuppe“, Mus, Marmelade und Likör hergestellt werden können, und dass sie süß-säuerlich schmecken. Ihr Vitaminreichtum ist bekannt (A, B und C), ebenso der Gehalt an wichtigen Mineralstoffen (Eisen, Kalium) und pflanzlichen Farbstoffen (man denke an die Stare im Fliederbaum und an die möglichen Folgen!). Die Beeren enthalten außerdem Sambunigrin, ein schwaches Gift. Werden die Wildfrüchte roh und in größeren Mengen verzehrt, kann es zu Verdauungsstörungen mit Erbrechen und Übelkeit kommen. Durch Erhitzen verliert das Gift seine Wirkung. (Zum Trost: Eine Beere macht noch keine Unpässlichkeit!)

Unsere Voreltern in grauer Vorzeit wussten bereits von den heilenden Kräften des Holunders. Und dieses Wissen setzte sich durch die Jahre fort. Im 17. Jahrhundert erweiterte der Arzt Martin Blochwitz großzügig die therapeutische Anwendung der Heilpflanze. Sie sei wirksam gegen „Gebärmuttererkrankungen, Geschwulstleiden, Lungen-, Darm-, Milz-, Magen-, und Gallenerkrankungen, psychische Erkrankungen, Schlaganfall, Lähmungen, Schwindsucht, Vergiftungen, Wurmbefall, Fieber, unklare Schmerzen“, et cetera, et cetera. Wie dem auch sei, der Holunder erhielt 2024 den Titel „Heilpflanze des Jahres“.

Ob der weit zurückführenden Vergangenheit umgeben den „Holder“ Mythen und Legenden. Freya, die germanische Göttin, soll im Inneren des Baumes ihren Wohnsitz haben und Haus und Hof beschützen. Deshalb wohl stand in früheren Tagen ein Holunderbaum, den man verehrte und achtete an jedem Bauerngehöft. Durch Fällen oder Beschädigen durfte ihm kein Leid geschehen, das brachte dem Hauswesen Unheil, Krankheit oder gar den Tod. Ein heiliger Baum. Ein Baum des Lebens. – Übrigens, wenn sich Holunder eigenmächtig im Garten ansiedelt, bringt es dem Gartenbesitzer Glück.

Der Schritt zur Magie ist nicht weit. – Wen Zahnschmerzen plagen, der beiße auf einen Holunderzweig, er übergibt diesem sein Ungemach und ist befreit. Soll der „Fliedertee“ Wirkung zeigen, so müssen die Dolden vor Sonnenaufgang geerntet sein. – Eine mystische Legende aus Dänemark empfiehlt: Wer in einer Mitsommernacht unter einem Holunderbusch sitzt, der kann (eventuell!) um Mitternacht dem Elfenkönig und seinem Gefolge begegnen.

Und zum Abschluss erzählt der dänische Dichter Hans Christian Andersen noch ein Märchen, das vom „Fliedermütterchen“. „Es war einmal ein kleiner Knabe, der hatte sich erkältet […].“ Seine Mutter brachte ihn zu Bett und gab ihm eine Tasse heißen „Fliedertee“. Da wuchs aus der Teekanne ein Fliederbaum und darin saß das Fliedermütterchen. Es flog mit dem Kranken durch seine wundersamen Träume. Als der Knabe erwachte, sagte er: „Wie schön war das! Und wo ist das Fliedermütterchen?“ „Das ist in der Theekanne“, sagte die Mutter, „und da mag es bleiben.“ Finis.