Ist das Kaiserreich in Fernost nun sächlich oder doch weiblich, weil eine Insel? (Jaja, es sind mehrere.) Aber männlich ist Japan ganz gewiss nicht. Vielleicht folgte der Verlag lediglich dem Prinzip der Serie, die man dadurch zur Serie machte, weil man dem Buch „China, wer bist du?“ diesen Band hinzugesellte: „Japan, wer bist du?“ Der Verlag Reisedepeschen, im Westteil Berlins beheimatet, produziert im Jahr ein halbes Dutzend Titel und erhielt dafür auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse bereits im sechsten Jahr seiner Existenz den Deutschen Verlagspreis. Das klingt gewaltig, aber wir wollen mal schön die Kirche im Dorf und die Bibel in der Bücherei lassen: Diesen Preis bekamen am 16. Oktober aus der Hand der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien insgesamt 84 Verlage (von 330, die sich um diesen Preis bewarben).
Doch ich will nicht so ironisch sein wie die meisten Journalistenkollegen heutzutage und mich darüber lustig machen, zumal es hier um ein wirklich schönes Buch geht, das dieser Tage herauskam. „Japan, wer bist du?“ ist gestalterisch wie inhaltlich ein Genuss. Das Buch weicht sichtlich von der Norm der üblichen Reisebücher ab. Der Einband: ein vielleicht drei Millimeter dicker Karton, der Rücken gerade – grafisch wie haptisch angenehm. Drinnen: augenfreundlicher Satz auf Werkdruckpapier, sporadisch eingestreut ganz- oder doppelseitige Fotos. Kein Bildband. Keine Geheimtipps für touristisch unerschlossene Orte, kein Hochglanz-Reiseführer. Sondern ruhig erzählte Begebenheiten, Begegnungen und Beobachtungen fernab der Touristenhotspots oder schlagzeilenträchtiger Ereignisse. Der Autor Fritz Schumann, Jahrgang 1987, studierte in Hannover und in Hiroshima (das konnte er, weil er japanisch kann). Es ist nicht sein erstes Buch. Der Fotojournalist kommt aus Berlin, wobei er schon mal bei Ausstellungen seine dort ausgehängte Vita mit Filzstift präzisierte und dem Ort „Ost-“ voranstellte. Offenkundig ist in dieser Generation Y solcherart Unterscheidung wichtig. Y steht für das englische Why und meint, dass die Vertreter dieser Kohorte besonders zum Hinterfragen neigten. Warum – das weiß man nicht so genau.
Schumann reiste auch nach seinem Studium wiederholt nach Japan, für Wochen und manchmal auch für Monate. Und wem er da begegnete, was er dort hörte, schmeckte, roch und fühlte, teilt er hier in einer ruhigen, angenehmen Sprache unaufgeregt mit. Mitunter gelingen ergreifende Porträts, mit wenigen Strichen zeichnet er lakonisch lebendige Schicksale. Da ist zum Beispiel im Iya-Tal das Dorf Nagoro, welches das Schicksal von etwa zehntausend japanischen Dörfern teilt. Nach Schätzungen der Regierung nämlich werden in den nächsten Jahren so viele Siedlungen aufgegeben werden. Eine Frau in diesem Ort stemmt sich gegen das Verlassen und die Verlassenheit: Sie näht und bastelt lebensgroße Puppen. Die stehen an der Straße, sitzen in der Schule und im Restaurant und suggerieren, dass der Ort noch lebt. Tut er aber nicht. Das nächste Leben rettende Krankenhaus ist anderthalb Stunden entfernt, da geht man besser weg, bevor man stirbt. So ist es überall auf der Welt. Die Frau erzählte, Schumann notierte, filmte und fotografierte. Das Thema weist über das Einzelschicksal hinaus, bleibt aber eben dennoch ein anrührendes Menschenleben. Der alte Mann und das Meer und die alte Frau und die Puppen …
In Deutschland bot er verschiedenen Redaktionen die Geschichte an. Die lehnten ab. Ach Gott, wer will das lesen? Japan ist out. Schumann stellte seinen kurzen Film über das Tal der Puppen ins Netz. Es folgten Reaktionen aus Kanada, Mexiko und Südafrika, National Geographic in den USA übernahm den Film, und japanische Fernsehstationen interviewten ihn. Plötzlich gab es auch Anfragen von deutschen Medien, die zuvor die Geschichte abgelehnt hatten. Absurd, aber durchaus üblich hierzulande. Alle sind auf „exklusive Geschichten“ erpicht und lehnen die wirklich exklusiven ab, weil sie angeblich nicht marktgängig sind. Finden sie jedoch andernorts Aufmerksamkeit und Verbreitung, wollen alle sie haben. Das ist die Macht des dämlichen Mainstreams.
Oder da war dieses Gasthaus, drei Stunden von Kyoto entfernt, das seit 1300 Jahren von der Familie Hoshi geführt wird. „Bis 2011 stand die Herberge im Guinness-Buch der Rekorde als ältester Familienbetrieb der Welt“, schreibt Schumann. „Dann ging der Rekord an ein anderes Gasthaus“ in der Präfektur Yamanashi, weil es angeblich dreizehn Jahre älter sei. Man schläft in der Hoshi-Herberge wie seit Anbeginn auf Futon und speist am Morgen Misosuppe und Fisch. Man zahlt die Historie mit, eine Nacht auf dem nackten Boden kommt zwischen hundert und dreihundert Euro. „Achte auf Feuer, lerne vom Wasser, kooperiere mit der Natur“, erklärt Hoshi Zengoro dem Reisenden aus Europa. Häuser seiner Herberge wurden 767, 1897 und 1983 von Fluten mitgerissen, 1881 und 1961 brannte es. Das vergisst man nie.
Von solchen Dramen weiß der 46. Zengoro, geboren 1938, zu berichten. Der jeweils Erstgeborene bekommt diesen Namen und das Gasthaus neben den heißen, schwefelhaltigen Quellen, die den Geruch fauler Eier verbreiten, aber eben gesund sind. In den achtziger Jahren des letzten Jahrtausends ging es in Japan wirtschaftlich aufwärts. New Economy … Hoshi Zengoro konnte sich vor Gästen nicht retten, er ließ einen Teil der historischen Gebäude abreißen und eine achtstöckige Bettenburg errichten. „Die Wirtschaft florierte“, bekannte er gegenüber Schumann selbstkritisch, „aber eigentlich war es keine glückliche Zeit.“ Menschen merkten nicht die Zeichen für eine Verschlechterung, wenn die Dinge gut laufen. Hoshi sprach im Plural, doch eigentlich über sich und seine Sünden. Nach dem Boom, als die Blase platzte, ging es bergab mit der Wirtschaft. Die neunziger Jahre gelten in Japan als verlorene Dekade wie auch die beiden darauf folgenden Jahrzehnte.
Schumann endete versöhnlich. „Familie Hoshi wartet seit 1300 Jahren auf den ersten weiblichen Zengoro. Sie hat Zeit.“ In Asien besitzt man noch das, was uns Europäern verloren gegangen ist: Geduld.
So reiht sich tiefgründige Geschichte an Geschichte, eingefügt darin persönliche Reflexionen des Autors der Generation Y. Am 31. Dezember 2017 – „ein Tag nach meinem 30. Geburtstag“ – reiste er zu Bergmönchen in Nordjapan, deren uralte Religion und geheimen Riten selbst den meisten Japanern unbekannt sind. Er besuchte sie nicht zum ersten Mal, man kannte ihn. Schumann kehrte bei ihnen ein, um am letzten Tag des Jahres mit Strohfeuern die Dämonen zu vertreiben und den Segen fürs nächste Jahr zu erbitten. „Meine Eltern waren mit 30 verheiratet und hatten zwei Kinder. Mein Bruder hatte mit 30 einen Sohn“, schreibt er. „Ich sitze mit 30 in einem Bus in Japan. Kinderlos, ohne Arbeitsvertrag und Aussicht auf Karriere.“ Draußen war es kalt und Schnee trieb über die Berge. Doch vielleicht half shoreisai, wie die uralte Zeremonie auf dem Gipfel hieß. Oben, bei den Yamabushi, traf er Kanae, die Erbin eines Sojasaucen-Imperiums, deren Flaschen in jedem japanischen Supermarkt stehen. Auch sie scheint auf der Suche nach der inneren Balance und nach Antworten auf die ewige Frage: Was wird aus mir? „Wenn man den Berg betritt und nachdenkt, friert man“, sagt der Meister der Mönche. Was meint er damit? O, die Sprüche der Hohepriester sind mitunter sehr rätselhaft …
Fritz Schumann beobachtet genau, präzise die Wiedergabe. Alles wirkt sehr persönlich und verrät darum mindestens so viel über den Autor selbst wie über dieses Land, ohne penetrant oder voyeuristisch zu wirken. Politik findet allenfalls peripher statt, wird japanisch-höflich behandelt. Indirekt. Mehr hätte dem Buch vielleicht auch nicht gutgetan. Der Claim des Verlags lautet nämlich: Reisen macht glücklich und darüber lesen auch. Das kann man nach der Lektüre nur bestätigen.
Fritz Schumann: Japan, wer bist du? Verborgene Orte und unerzählte Geschichten. Reisedepeschen Verlag, 350 Seiten, 26,00 Euro.
Schlagwörter: Bettina Richter, Fritz Schumann, Hoshi-Herberge, Japan, Mainstream, Reisebericht