27. Jahrgang | Nummer 22 | 21. Oktober 2024

Eichmann und zwei Judenretter

von Ernst Reuß

Kollaborateur oder Judenretter? Das ist die Frage, wenn man sich mit Berthold Storfers Leben beschäftigt.

Eine österreichische Historikerin schrieb seine Biographie, die zwiespältige Gefühle hinterlässt, denn der 1880 in Czernowitz geborene Bankier Storfer war unter Adolf Eichmann Leiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ und organisierte die Auswanderung von Juden nach Palästina, bevor er schließlich selbst in Auschwitz ermordet wurde.

Storfer verhalf laut seiner den NSDAP-Behörden vorgelegten eigenen Aufzeichnungen mindestens 9096 österreichischen und deutschen Juden zur Auswanderung und rettete sie damit vor der späteren Vernichtung. Das waren unzählig mehr Menschen als Oskar Schindler rettete und trotzdem ist Bernhard Storfer weitgehend unbekannt, was wohl der Tatsache geschuldet war, dass er gemeinsame Sache mit den Nazis machte.

Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 begann auch in Storfers Heimat der Terror gegen die Juden und viele verließen panisch das Land. Storfer, der katholisch getauft war, aber laut „Nürnberger Gesetzen“ trotzdem als Jude galt, flüchtete nicht. Stattdessen diente er sich den Nazis an und wurde wenige Wochen später Leiter der in Wien unter Leitung von Adolf Eichmann gegründeten „Auswanderungsbehörde“. Storfer wurde dadurch zu einer zentralen Figur für die Auswanderung der Juden aus dem gesamten Deutschen Reich. Eine äußerst knifflige Aufgabe, denn die Auswanderung war eigentlich eher eine Flucht vor den Nazis.

Wollte Storfer helfen, wollte er sich bei den Nazis lieb Kind machen, oder wollte er sich persönlich bereichern? Zumindest letzteres kann nach Lektüre des Buches sicherlich ausgeschlossen werden.

Jedenfalls organisierte er bis zum Verbot der Auswanderung und dem Beginn des systematischen Holocaust im Herbst 1941 vier große Schiffstransporte Richtung Palästina. Offiziell war dies verboten weil Großbritannien, als „Mandatsmacht“ – laut Völkerbund eine Art Vormundschaft über Völker – in Palästina die Einwanderung von Juden sehr restriktiv handhabte. Im Gegensatz zu den zionistischen Organisationen, die vor allem junge Menschen zum Aufbau des kommenden Staates Israel illegal ins Land holten, organisierte Storfer die Flucht von Menschen aller Altersklassen, auch von freigekauften KZ-Häftlingen und setzte durch, dass auch nicht solvente Flüchtlinge mitkamen.

Mit der Auflösung seiner Behörde wurde Storfer nicht mehr gebraucht, obwohl er verzweifelt versuchte, Adolf Eichmann von seiner Unentbehrlichkeit zu überzeugen. Ihm wurde 1943 mitgeteilt, dass er seinen „Wohnsitz“ nach Theresienstadt zu verlegen habe. Daraufhin versteckte er sich bei einer arischen Freundin, wurde allerdings nur fünf Tage später festgenommen und nach Auschwitz deportiert.

Dort gelang es ihm, Eichmann von einem Zusammentreffen zu überzeugen. Dieser berichtete darüber später in seinem Prozess in Israel. „Ja, mein lieber guter Storfer, was haben wir denn da für ein Pech gehabt?“, will er gesagt und ihm mitgeteilt haben, dass er ihm nicht helfen könne. Kurze Zeit später wurde Storfer wahrscheinlich erschossen.

Verdienstvoll, dass Storfers Leben und Wirken jetzt in dieser Biographie geschildert wird, allerdings ist die Studie sehr detailliert und dadurch nur mühsam lesbar. Trotzdem bleibt zu hoffen, dass mit ihrer Hilfe auch dieses Kapitel der Geschichte und das Leben Berthold Storfers nicht der Vergessenheit anheimfallen.

Andere Erfahrungen mit Adolf Eichmann machte Willy Perl. Eichmann drohte ihm mit einer Pistole im Rücken und einem „zweiten Arschloch“, während Perl vergeblich versuchte diesen für seinen Rettungsplan Wiener Juden zu interessieren. Zumindest hörte Eichmann zu und schoss nicht, glaubte Perl aber nicht, sondern hielt es für einen „jüdischen Trick“. Er ließ ihn aber dennoch vorerst laufen.

Trotzdem setzte der Wiener Anwalt Perl am Vorabend des Zweiten Weltkriegs ein Unternehmen in Gang, das tausende Juden aus Zentral- und Osteuropa vor dem Holocaust rettet. Trotz zwischenzeitlicher Verhaftung durch Gestapo und SS organisiert er heimliche Flüchtlingstransporte nach Palästina. Aus südeuropäischen Ländern evakuierte er mit heruntergekommenen Frachtern und Segelbooten in 14 Transporten mindesten 8.000 Juden. Er selbst sprach von 40.000 Menschen.

Robert Lackner zeichnet diese dramatischen Jahre in Perls Leben eindrücklich nach und bedient sich dabei Perls 1979 erschienen Biographie „The Four-front War: From the Holocaust to the Promised Land“. Willy Perl sah sich im Kampf an vier Fronten: gegen die Nazis, die Briten, die die illegale Einreise nach Palästina verhindern wollten, genauso wie jüdische Eliten, die den legalen Weg bevorzugten und mit den vier Elementen, da die Schiffsüberfahrten gefährlich waren.

Eichmann drohte ihn auch noch zu „kriegen“, was fast gelang. 1940 wurde Perl in Griechenland verhaftet. Mit einem aufgeschnittenen Handgelenk konnte er kurz vor der jugoslawischen Grenze einen Suizid vortäuschen und wurde zurückgesandt, wobei ihm die Flucht gelang. Über Portugal entkam er nach Mosambik, wo er 1941 ein Visum für die Vereinigten Staaten erhielt.

Er trat schließlich in die US-Armee ein und diente in Europa als Oberstleutnant im Heeresnachrichtendienst. Dort erlebte er auch noch sein persönliches Happy End, denn er traf seine Ehefrau Lore in Wien wieder, die kurz vor ihrer Hochzeit im April 1938 heimlich vom Katholizismus zum Judentum konvertierte. Sie war für den Versuch, einen jüdischen Nachbarn zu verstecken 1942 bis1944 im KZ Ravensbrück inhaftiert worden.

Die israelische Regierung lud Willy Perl 1961 als Beobachter zum Eichmann-Prozess ein.

Gabriele Anderl: „9096 Leben“. Der unbekannte Judenretter Berthold Storfer. Mit einem Vorwort von Arno Lustiger, Rotbuch Verlag, Berlin 2012, 400 Seiten, 19,95 Euro.

Robert Lackner: Wie ein junger Anwalt Tausende Juden rettete. Die abenteuerliche Geschichte des Willy Perl. Kremayr & Scheriau, Wien 2024, 304 Seiten, 27,00 Euro.