27. Jahrgang | Nummer 20 | 23. September 2024

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Wolf“ – Theaterzirkus Chamäleon / „Empfänger unbekannt“ – Kleines Theater am Südwestkorso

***

Chamäleon: Rasender Körperwahnsinn

Was für ein Rudel! Da wird gejagt, geschlagen, gebissen, geherzt. Da wechseln Gewalt und Zärtlichkeit, Kampf und Spiel. Auf und Ab. Raserei und Innehalten. Wahnsinn. Sensationelle Körperskulpturen neben wildem, doch raffiniert organisiertem Körperwirrwarr. Grell, düster, dunkel.

„Was lauert in den dunklen Wäldern unseres Selbst, in den dunklen Wäldern anderer Leute. Und was passiert, wenn das aufeinanderprallt“, fragt der Regisseur und Choreograph der australischen Kompanie „Circa“ in seiner neuen Show „Wolf“, mit deren Weltpremiere das Berliner Chamäleon sein zwanzigjähriges Bestehen auf überwältigend furiose Weise feiert.

Ein internationales zehnköpfiges Artisten-Ensemble (fünf Frauen, fünf Männer) stilisiert als Wolfsrudel und obendrein menschliches Gleichnis – was für eine verwegene Idee: der Wolf in uns. Als Drama und als Spektakel zugleich.

Oder anders: Als artifizielles Gesamtkunstwerk aus Hochleistungssport, modernem Ausdruckstanz, Körperartistik und performativem Theater unter kontrapunktisch gefühlsverstärkendem Soundtrack (Ori Lichtik). Atemberaubend!

Wer es noch nicht weiß: Das Chamäleon unter der künstlerischen Leitung von Anke Politz (Geschäftsführung: Hendrik Frobel) beschritt vor nunmehr zwei Jahrzehnten als erster Veranstalter hierzulande den Weg eines Theaters für Zeitgenössischen Zirkus. Zuvor gab es den romantisch märchenhaft durchsetzten Cirque Nouveau (Roncalli oder Cirque du Soleil). Und den entwickelte das Team Politz mit „Mut, Neugier und Freigeist“ weiter. Also weg vom Varieté, vom Zirkus-Nummernprogramm, vom sozusagen opernhaften Arienbetrieb hin zum durchkomponierten Drama. Freilich ohne zirkustypische Formen zu ignorieren, sondern sie zu einzubinden in Performance, Tanz, Theater, Musik, bildende Kunst und neue Medien. So wurde das Chamäleon zur weltweit (!) beachteten Plattform dieser noch jungen Bühnenform der darstellenden Künste – dieser Art Gesamtkunstwerk. Zu ihrem Produktionsort, internationalem Netzwerkpartner und Heimathafen (seit 2022 als gemeinnützige Gesellschaft). Das gilt als einzigartig in Deutschland.

Im Großgastspiel „Wolf“ der mit Preisen überhäuften australischen Truppe (es ist nicht das erste im zauberhaften Jugendstilsaal der Hackeschen Höfe) präsentieren sich Künstlerinnen und Künstler komplexen Könnens. Ursprünglich kommen sie teils vom Schauspiel, vom (klassischen) Tanz, vom Leistungssport oder von Artistenschulen aus aller Welt; sozusagen mit Grundausbildung für vielfältigen Ausdruck. Für die energetische Wirkungskraft der bereits in Berlin gezeigten „Stücke“ wie „Beyond“, „Humans“, „Wunderkammer“ oder „Peepshow“ unter Mastermind Lifschitz. Und wie jetzt wieder in „Wolf“.

Was für eine erotisch aufgeladene Feier des Poetischen. Was für frappierende Momente des Schreckens wie des Schönen auf der schwarz ausgeschlagenen Bühne mit weißem Breitwand-Paravent für die Illumination der wechselnden Stimmungen (Blutrot, Giftgrün, Eisblau). Was für ein Abenteuer. Unvergesslich! Und wer aufs Philosophische aus ist, dem bleibt obendrein genug Luft für Assoziationen ins Allgemeinmenschliche.

Alles zusammen treibt das Publikum erst ins sprachlos Staunen, dann enthusiasmiert aus dem Häuschen. Jubel!

Bis zum 5. Januar 2025

***

Kleines Theater: Ideologie zerstört Menschen

Max und Martin: zwei gute Freunde. Zwei beste, zwei allerbeste. Und obendrein erfolgreiche Geschäftspartner: Kunsthandel in Kalifornien. Ihre vom Deutschen Martin Schulze und vom Amerikaner Max Eisenstein gemeinsam geführte US-Firma wirft jede Menge Dollars ab, die der vornehmlich jüdisch geprägte Westküsten-Geld- und Geistesadel gern für moderne Kunst ausgibt.

Soweit die Ausgangslage im Roman „Adress unknown“, den die amerikanische Journalistin Kathrin Kressman Taylor (1901-1996) in ihre Smith-Corona-Schreibmaschine tippte. Im September anno 1938 erschienen bei Simon & Schuster, machte er die Autorin quasi über Nacht berühmt. „Taylor – die Frau, die Amerika erschüttert“, titelten die Medien.

1944 folgte eine Verfilmung des Briefromans, der die (fiktive) Korrespondenz der beiden Männer sowie den durch nationalsozialistischen Wahn grauenvoll herbeigeführten Bruch dieser Freundschaft in atemberaubender Präzision schildert. Da kippt nämlich geradezu unheimlich das einst Allerbeste ins Schlimmstmögliche; das Schöne und Gute ins Hässliche und Böse.

Nach dem zweiten Weltkrieg geriet der packende Text erstaunlicherweise (oder gerade nicht erstaunlicherweise) in Vergessenheit. Erst ein Halbjahrhundert später wurde er wiederentdeckt und übersetzt in mehr als zwanzig Sprachen.

Es spricht für das literarische wie politische Gespür des Kleinen Theaters, Kressman Taylors Geschichte einer zwischenmenschlichen Zerstörung durch demagogische Ideologie auf die Bühne gebracht zu haben (Übersetzung: Heidi Zerning).

Die horrible Sache zwischen dem kalifornischen Juden Max Eisenstein (Paul Walther) und seinem deutschen Partner Martin Schulze (Jonas Lux) ist, dass sein langjähriger Partner 1932 nach Bayern zurückkehrt und dort Zug um Zug zum blindwütigen Nazi wird: Endlich sei Schluss mit dem geschwätzigen Liberalismus; der neue Reichskanzler ein Schwert der Tat, eine Lichtgestalt, ja ein Engel, der das verzweifelt darniederliegende Volk aufrichte, ihm endlich Optimismus und Zukunft gebe. Dabei störe allein das Judenvolk, dieses Eitergeschwür am deutschen Wirtsvolk.

Das schreibt er an Freund Max nach Kalifornien – der aber solle das bitte nicht persönlich nehmen. Max freilich sieht das sehr anders, überweist jedoch brav die Gewinnanteile der noch gemeinsamen Firma nach Bayern; versucht krampfhaft, die Freundschaft brieflich zu retten. Da seine Post zensiert wird, lehnt Martin weiteren Postverkehr ab. Nur die Dollars sollen – heimlich, anonymisiert – weiter fließen.

Wie elend und erniedrigend. Doch es kommt schlimmer: Max hat eine Schwester, eine längst verflossene Liebe von Martin. Eine Schauspielerin, zunächst in Wien lebend, dann aber endlich ein Engagement im Theater der Reichshauptstadt antretend. Und prompt der beginnenden Judenverfolgung zum Opfer fallend. Max bittet Martin, ihr zu helfen, ihr Unterschlupf zu gewähren. Doch der weist sie ab, als die Verfolgte vor seiner Tür steht. Der angepasste Mitläufer und Karrierist hat Angst. „Wer Juden hilft, kommt ins KZ und darin um. Da kann man nichts machen.“ Er weiß auch, SS-Schergen werden die Frau fangen. Alle Briefe, mit denen Max aus der Ferne versucht, die Schwester zu erreichen oder ihren Verbleib zu erforschen, kommen zurück: „Empfänger unbekannt“.

Fortan schickt Max Telegramme und Geschäftsbriefe „kompromittierenden“ Inhalts an Nazi-Schulze („Die mosaische Gemeinde wünscht Dir alles Gute!“). Die Gestapo soll mitlesen! Ein Akt verzweifelter und wütender Rache. Seine Briefe kommen eines Tages zurück nach Amerika: „Empfänger unbekannt“. Im Klartext: Martin ist vom Nazi-System vernichtet.

Was für ein Stück Zeitgeschichte, wenngleich in fiktiver Form. Schockiert, aber auch gebannt erleben wir in diesem stringent aufgerollten Drama, wie ein bürgerlicher Intellektueller Schritt für Schritt in die giftige Blase menschenzerstörerischen Gedankenguts hineingerät, es kritiklos verinnerlicht. Wobei eventuell schwelende Gewissensbisse opportunistisch beruhigt werden mit der Verantwortung für Familie und Wohlergehen. „Man musste! Man konnte nicht anders!“

Ein großartiger, von Boris von Poser schnörkellos inszenierter, von den beiden Schauspielern konzentriert gespielter Theaterabend. Beklemmend. Bestürzend. Aufklärerisch. Und so unendlich traurig. Bravo Kleines Theater! – Wir wünschen viele Gastspiele, besonders in Schulen.