27. Jahrgang | Nummer 19 | 9. September 2024

Ein außergewöhnliches Paar

von Manfred Orlick

Die Geschichte von Heinrich VIII. und Anne Boleyn ist eine der bemerkenswertesten in der Geschichte: eine lange Brautwerbung, gefolgt von einer Schrotflintenhochzeit und schließlich einer Krönung. Doch bald verwandelte sich die Leidenschaft Heinrichs in solch einen Hass, dass er Anne zum Tode verurteilte. In „Jagd auf den Falken“ untersuchen die beiden englischen Historiker John Guy und Julia Fox die Beziehung zwischen Heinrich VIII. und Anne Boleyn, wobei Anne und ihr Einfluss auf den König im Mittelpunkt des Interesses stehen.

Anne Boleyn war die zweite und die bekannteste von den sechs Frauen des Königs von England. Zunächst schien die zukünftige Königin für eine konventionelle Laufbahn als Hofdame der Oberschicht bestimmt. Sie konnte damit rechnen, in den Adel einzuheiraten. Den größten Teil ihrer Jugend verbrachte Anne mit ihrer Schwester Mary jedoch in Flandern und Frankreich, wo sie eine umfangreiche Ausbildung erhielt. Nach sieben Jahren kehrte sie 1521 zurück an den englischen Hof. Ob die junge Anne durch ihren französischen Lebensstil besonders attraktiv für die Männer am Hofe wirkte, lässt sich nur spekulieren. Irgendwann um 1525/26 verliebte sich Heinrich VIII. leidenschaftlich in sie. Er begann, Anne zu belagern, ihr mit Briefen und Geschenken oder überraschenden Besuchen den Hof zu machen. Durch ihre Distanziertheit wurde sein Ehrgeiz offenbar nur weiter gesteigert. Bald war der liebestolle Heinrich so besessen von ihr, dass er sich von seiner ersten Ehefrau Katharina von Aragon scheiden ließ und dazu noch den Bruch mit der römisch-katholischen Kirche vorantrieb. Mit der „Suprematsakte“ 1534 vollzog er die endgültige Trennung von Rom. Das alles als Folge der Liebe zu einer selbstbewussten Hofdame.

Das Ausbleiben eines männlichen Erben führte jedoch zu wachsenden Spannungen zwischen den Eheleuten. Außerdem machte sich Anne durch ihre politische Einmischung zahlreiche Feinde, die nur darauf lauerten, sie durch eine in ihren Augen geeignetere Kandidatin zu ersetzen. Also musste sich Minister Thomas Cromwell um eine Lösung bemühen. So kam es zu einer Anklage wegen Ehebruchs gegen Anne, was Hochverrat bedeutete. Obwohl sie stets ihre Unschuld beteuerte, wurde die Ehe mit dem König für ungültig erklärt. Am 19. Mai 1536 wurde Anne Boleyn nur drei Jahre nach der Hochzeit zum Richtblock geführt und im Tower hingerichtet, um Platz für die nächste Frau zu machen.

Für keine seiner anderen Ehefrauen empfand Heinrich eine solch intensive Leidenschaft und keine andere Gattin Heinrichs ist so tief im kollektiven Gedächtnis Englands verankert wie Anne. Ihr Schicksal übt über die Zeiten hinweg eine starke Faszination aus und lieferte Stoff für zahlreiche Biografien, Romane, Theaterstücke und Verfilmungen.

John Guy und Julia Fox stellen die Fakten in einen großen historischen Rahmen und vermitteln eine Würdigung dieser oft missverstandenen und unterschätzten Frau. Sie stützten sich dabei auf neueste Archivfunde und konnten Lücken in der Biografie Anne Boleyns schließen. Im Zuge der Forschungen wurden Briefe, Berichte und Protokolle durchforstet und wo immer es möglich war, ließ das Autoren-Duo Heinrich und Anne selbst zu Wort kommen. Die teilweise bisher kaum beachteten Archivfunde führten auch zu einer Neubewertung von Annes Rolle am englischen Hof, wo sie als intelligente, ehrgeizige und politisch interessierte Frau eigenständige Akzente setzte. Ausführlich werden auch die Vorgeschichte und die frühen Jahre der beiden Protagonisten geschildert; vor allem die sieben bedeutsamen Jahre, die Anne in Frankreich verbrachte. Ausdruck dieser umfangreichen Recherchen ist ein 125-seitiger Anhang mit Anmerkungen, Familienstammbäumen, Quellen und Literatur. Außerdem wird die beeindruckende Biografie durch einige historische Abbildungen ergänzt.

John Guy / Julia Fox: Jagd auf den Falken – Anne Boleyn und Heinrich VIII. Verlag C.H. Beck, München 2024, 603 Seiten, 34,00 Euro.