27. Jahrgang | Nummer 19 | 9. September 2024

99 Rosen für Goethes Katharina

von Detlef Jena

Katharina Mommsen, die große Dame der weltweiten Goetheforschung, vollendet am 18. September in Kalifornien ihre 99. Lebensjahr. 99 Rosen könnten für 99 Lebenswahrheiten Goethes stehen und würden doch nur einen Teil der Lebenserfahrung Frau Mommsens ausfüllen. Sie hält es mit Goethe, der einst zu später Stunde geseufzt hatte, es sei „keine Kleinigkeit, das, was man im zwanzigsten Jahr concipirt hat, im 82. außer sich darzustel­len“. Er meinte den „Faust“. Mit fünfzig verfasste er den ersten Teil. Der „Tragödie zweiter Teil“ wurde in der letzten Altersstufe fertig. Dieses Werk ist die Geschichte seines Lebens, seiner vielfachen Erkenntnisse, Weltsichten und Visionen, mithin keine wohlfeile Verbeugung vor dem flüchtigen Zeitgeist. Es ist auch die Lebensgeschichte Katharina Mommsens.

Um sie zu verstehen, muss man nicht gleich zu ihrem Hauptwerk, der vielbändigen „Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten“ greifen. Es ist erst ein gutes Jahrzehnt her. Da begann Katharina Mommsen darüber nachzudenken, ein Buch rund um das berühmte Bild von Heinrich Christoph Kolbe: „Goethe als Dichter und Künstler vor dem Vesuv“ (1826) zu erarbeiten. Sie hatte gerade das Buch „Goethe und der Alte Fritz“ veröffentlicht: „Während des 18. Jahrhunderts tauchten im Abstand von siebenunddreißig Jahren zwei schier unbegreifliche Männer in Deutschland auf, die das Staunen ihrer Zeitgenossen erregten und von vielen als die bedeutendsten Repräsentanten der Epoche empfunden wurden: König Friedrich II. von Preußen (1712-1786), souveräner Staatslenker, Feldherr, Schriftsteller, „Salomon des Nordens“, „Philosoph von Sanssouci“, und Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), bahnbrechender Lyriker, Dramatiker, Epiker, Naturforscher, Staatsmann, universaler Denker.“ (Katharina Mommsen: Goethe und der Alte Fritz, Lehmstedt 2012). Da wurde ein erkenntnistheoretischer Anspruch formuliert, der aus den großen Fragen der Menschheitsgeschichte erwuchs. Er war nicht geringer als in Frau Mommsens Publikationen über Goethes Sicht auf den Islam und die arabische Welt.

Nun also der Bezug zwischen der Ästhetik des Kolbe-Bildes und Goethe, der in den Abendstunden seines Lebens stand, der alle Facetten der Lebenswirklichkeit zwischen sich und seinem Fürsten und Mäzen Carl August durchlebt hatte. In langen Telefongesprächen über Kontinente hinweg wurde der Alltag der beiden großen Persönlichkeiten in seinen Details erörtert. Mitten in die Debatte kam 2017 auch Band 5 der „Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten“, herausgegeben von Katharina Mommsen. Er befasst sich mit dem „Faust“. Die Geschichte dieses Bandes mit all ihren Verästelungen – das ist die Lebensgeschichte Katharina Mommsens.

Im Jahre 1950 beauftragte die Akademie der Wissenschaften der DDR den in Westberlin lebenden Literaturwissenschaftler Momme Mommsen, dem die Nationalsozialisten eine Karriere als Dirigent verweigert hatten, weil er nicht in die NSDAP eingetreten war, gemeinsam mit seiner Ehefrau Katharina, alle verfügbaren Dokumente zu sammeln, die sich auf Goethes Gesamtschaffen außerhalb der Lyrik beziehen. Das war eine Aufgabe, deren Anspruch und Dimensionen einem den Atem stocken lassen konnte. Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und in einem gespaltenen deutschen Vaterland! Katharina und Momme Mommsen trotzten den Bedenken, obwohl sie wussten, dass Goethe sich oft und gerade beim „Faust“ in seinen Dokumentationen zu den eigenen Werken eher schweigsam verhalten hatte. Am Anfang stand die Tat! Bis 1958 erschienen bereits die ersten beiden Bände!

Dann aber stockten der Atem und die Arbeit tatsächlich: Mit der Berliner Mauer wurden die Mommsens 1961 ohne Vorwarnung von den in Weimar verwahrten Handschriften abgeschnitten. Die Sicht auf Berge sorgfältig gesammelter Materialien zum Lebenswerk des Nationaldichters schien auf unabsehbare Zeit politischer Willkür geopfert zu werden.

Was sollten Menschen tun, die sich geistig mit einem freien Volk auf freiem Grund im Bunde fühlten? Sich in die deutsch-deutschen Scharmützel der Goethe-Gesellschaft verstricken? Die Mommsens setzten ihre Forschungen in den USA fort, hoch anerkannt und gewürdigt. Doch 1989 fiel die Berliner Mauer! Die nachfolgend erhoffte politische Weltenwende beantwortete die Frage nach Möglichkeiten und Willen zur Fortsetzung des fundamentalen Werks der Mommsens nicht automatisch. Goethes und Schillers Weimar wurde von der Politik auserkoren, als europäische Kulturstadt ein Symbol dafür zu liefern, wie die „neuen Bundesländer“ fortan für die marktgerechte freiheitliche Demokratie „fit gemacht“ werden sollten.

Einem Jahrzehnt des Nachdenkens, Suchens und Prüfens folgte der schicksalhafte Schlag: Am 1. Januar 2001 starb Momme Mommsen. Katharina lud die Last auf ihre Schultern und kämpfte beharrlich gegen objektive Schwierigkeiten und menschliches Versagen: In Weimar verschwand die gesamte mühsam aufgehäufte Dokumentation zum „Faust“ unter nie geklärten Umständen. Weitere zehn Jahre kämpfte die weltweit respektierte Katharina mit der „Mommsen Foundation“ darum, das Material zum „Faust“ wiederherzustellen, in die modernsten technischen Kommunikationsmittel zu integrieren und Mitarbeiter in Weimar und ganz Deutschland für das Projekt zu begeistern. Und das gelang! Im Vorwort zum 5. Band schreibt die Herausgeberin: „Erst als 2010 Uwe Hentschel (der in Leipzig und Chemnitz wirkende Literaturwissenschaftler – D.J.) hinzutrat, kam die Arbeit wieder in Gang. Im Laufe der folgenden Jahre sorgte er mit wissenschaftlicher Akribie bis zuletzt für zahlreiche Ergänzungen, Komplettheit und genaue Darbietung der Zeugnis­se.“ Inzwischen verfügte das Projekt über zahlreiche selbstlose Mitarbeiter und Helfer, auch im Weimarer Goethe-und-Schiller-Archiv.

Die politische Geschichte Deutschlands nachdem Zweiten Weltkrieg und die mit ihr verbundenen menschlichen Schicksale haben es mit sich gebracht, dass die Arbeit an dem Band zur Werkgeschichte des „Faust“ länger währte als jene des „Faust“ selber. Aber die Tatsache, dass dieser von Katharina Mommsen herausgegebene Band im Rahmen des Gesamtprojekts 2017 im geeinten Deutschland erscheinen konnte, ist ein gutes Zeichen für die deutsche Nationalkultur.

Eines hatte Katharina Mommsen in diesem Fall unserem Goethe voraus: Wenn er in späteren Jahren irritiert gewesen ist, wie lange er an dem Stück gewirkt und mit ihm gezaudert hat, so lautet ihr Schlachtruf angesichts der noch vor ihr liegenden gesamten Werkgeschichte nach jeder Pause: „Back to work!“ Das ehrgeizige Ziel ist noch nicht erreicht! Goethe hat den „Faust“ nicht nur geschrieben, er hat ihn gelebt. In aller Widersprüchlichkeit und damit der Welt ein Zeugnis seiner selbst hinterlassend. Welcher Literaturwissenschaftler möchte da seinem Helden nicht gleichen?

Katharina Mommsen vollendet am 18. September 2024 ihr 99. Lebensjahr. Goethe meinte, auch das hohe Alter hat seine Blüte. Oft genug schweift der Blick zurück, erfasst jene, die den Weg begleitet haben, die Toten und die Lebenden. Besonders gerne wird sie sich an Menschen erinnern, mit denen sie nicht nur ihre Pläne und Gedanken teilen konnte, sondern denen sie darüber hinaus freundschaftlich verbunden war – und blieb.

Es ist erst wenige Jahre her, dass sie einem ihrer Freunde in Deutschland zunächst ihr Herz über gesundheitliche Probleme des alternden Menschen öffnete und dann schrieb: „Jetzt aber Schluss mit der Jammerei, zumal die letzte Post eine große Freude brachte: die türkische Übersetzung von Goethe und die Weltkulturen, die schon äußerlich in Grün und Gold so festlich aussieht wie noch keins meiner früheren Bücher. Die Türken sind ästhetisch besonders begabt. Es ist interessant die völkerkundlichen Unterschiede selbst bei Bucheinbänden beobachten zu können; so war ich von der russischen Übersetzung meines Schiller-und-Goethe-Buches total verblüfft durch ein emotionelles Pathos; auch in dem Fall gefiel mir die Übersetzung besser als das deutsche Original. Bei den 64 Werther-Übersetzungen, deren Einbände ich gesehen habe, ist es mir zum erstenmal bewusst geworden, wie unterschiedlich die verschiedenen Völker ihre Bücher gestalten und wieviel Andersartiges man schon dadurch auf reizvolle Weise wahrnehmen kann. Jetzt setze ich eine Karawane mit guten Wünschen für Sie in Bewegung, deren Kamele sich so schnell durch die Lüfte bewegen, dass sie Sie schneller als in Windeseile erreichen werden! Zu den Festtagen wünsche Frohsinn, fröhliches Fressen und FRIEDEN zum Neuen Jahr! And so for ever!“ Und wie stets: „Herzlich grüssend, Ihre Katharina Mommsen“. Danke, sagt der Empfänger – so soll es noch lange bleiben!