27. Jahrgang | Nummer 17 | 12. August 2024

Freiheit – nur mit Badehose!

von Jutta Grieser

Kolja wurde mir in Moskau an die Seite gegeben. Wir beide waren damals etwa Mitte Dreißig, aufgeklärt und abgeklärt. Ich wusste, dass Kolja mir nicht nur Türen in Tallinn öffnen, sondern auch auf die Finger schauen sollte. Und er ahnte, dass ich seine Mission durchschaute, denn in diesem Metier kannte ich mich als Journalistin aus. Während der Bahnfahrt hielt er es für vordringlich, mich vor Gesprächen mit seinen Landsleuten zu schützen. Stattdessen erläuterte er mir die Überlegenheit sowjetischer Waffentechnik, denn ich hatte ihm sanft meinen Unmut über die Idiotie der nuklearen Hochrüstung zu verstehen gegeben. Wir steckten mitten in der Raketenkrise der frühen achtziger Jahre, in denen auch Honecker von „Teufelszeug“ sprach. Dabei hatte dieser auf eine geopolitische Zuschreibung verzichtet, weil für ihn sowohl die westlichen wie auch die östlichen Overkill-Waffen gleichermaßen Mordinstrumente waren. In dieser Hinsicht waren sich die meisten DDR-Deutschen mit ihrem Staats- und Parteichef wirklich neunundneunzigprozentig einig.

Kolja schwärmte mir was von den geheimen Raketen vor, die er jüngst habe besichtigen dürfen. Wenn ich diese gleich ihm gesehen hätte, würde ich fortan ruhiger schlafen. Im Gegenteil, entgegnete ich, das hätte mich noch mehr um den Schlaf gebracht. Auf einem Pulverfass könne ich nicht anders als unruhig nächtigen.

Der gleichermaßen kluge wie naive Kolja spürte, dass er mit diesem Thema nicht würde punkten können, also wechselte er es, nachdem er eine Zeit lang durchs Fenster auf die verschneite Landschaft geschaut hatte. Er sprach nun, was bei diesem Ausblick nahelag, über den Sommerurlaub an der See.

Es ging eine Weile hin und her, und irgendwann kamen wir auch auf die Neigung der Ostdeutschen zu sprechen, nackt zu baden. Kolja kommentierte als selbstbewusster Mann: Er müsse nicht ans Meer fahren, um seine Frau unbekleidet zu sehen.

Ich erlaubte mir Widerspruch, wiewohl mir bekannt war, dass unsere sowjetischen Freunde keine Freunde der Widerrede waren. Das Bad diene ausschließlich diesem einen Zweck, klärte ich ihn auf, und nicht der Fleischbeschau. Wir hätten sogar schon mal eine Produktionsberatung an den Tonseen hinter Königs Wusterhausen abgehalten, was sehr anregend und erfrischend gewesen sei, obwohl alle nackt waren. Ob das zur Kollektivbildung beigetragen habe, wisse ich nicht, aber offener und ehrlicher ging es danach auf jeden Fall in unserer Abteilung zu.

Kolja, der sich auch für einen Schöngeist hielt, hob daraufhin das Problem auf die ästhetische Ebene. Manche Menschen, nun ja, seien vom Leben gezeichnet, trügen viel Kummerspeck auf den Rippen, was weder ihrer noch der gesellschaftlichen Verfassung guttäte. Kurz, sie böten der Umwelt keinen erbaulichen Anblick.

Ich empfände die selbstgehäkelten Bikinis und Badehosenschlüpfer mancher Sowjetbürger, wie ich sie wiederholt sommers schon gesehen hatte, nicht unbedingt als bessere Alternative, sagte ich. Lieber ehrlich zeigen, wie der Herrgott sie geschaffen und Smetana sie habe werden lassen.

Wenn frau mehrere Kinder gestillt und hochgebracht hat, sieht man mit fünfzig nicht mehr so aus wie mit fünfzehn. Das weiß jeder. Aber noch einmal: Ein FKK-Badestrand ist ein Badestrand und kein Laufsteg für dickbäuchige Männer und übergewichtige Frauen, die sich kollektiver Begutachtung stellten. Jedermann und jedefrau setzten sich lediglich Sonne, Wind und Wellen aus. Und das finden sie gut. Ich im Übrigen auch …

Kolja schaute lange aus dem Fenster und beendete die Diskussion übers Nacktbaden im Allgemeinen und FKK im Besonderen mit dem finalen Satz, der im grenzüberschreitenden Disput immer und überall funktioniert: „Das hat bei uns keine Tradition!“

Na dann.

An diesen Disput erinnerte mich die Lektüre meiner Morgenzeitung, die das Sommerloch – wie alle Jahre wieder – mit dem FKK-Thema füllte. Die einen barmten, dass den Nudisten der Nachwuchs ausgehe (wovor schon der Spiegel vor dreizehn Jahren warnte: „Keine Lust auf FKK. Die Jugend in Deutschland mag sich nicht mehr entblättern“, 28. August 2011).  Die anderen forderten höhnisch-selbstironisch: „Bikini-Faschisten, vereinigt euch!“  (Berliner Zeitung, 30. Juli 2024). Die westsozialisierte und augenscheinlich verklemmte Autorin des darunter stehenden Textes kommentierte die für sie anstößige Schamlosigkeit mancher Leute: „Nun leben im vereinten Deutschland aber auch Menschen, die ihre ,Freiheit’ anders zum Ausdruck bringen möchten als durch Nacktheit.“

Zum Beispiel durch das Tragen einer Badehose?

Und dann schrieb sie noch: „Die Scham unterscheidet die Menschheit vom Tierreich.“

Herrliche Einfalt! Wer also seine Blöße nicht bedeckt, hat die Evolution nicht ordentlich durchlaufen.

In den sechziger Jahren fuhren wir mit unseren Eltern meist an die Ostsee. Mein Vater, sächsisch-lutherischer Pastor, ohnehin der irdischen Welt stärker zugeneigt als dem himmlischen Jenseits, schlug immer in Ückeritz-Bansin unser Hauszelt unter Bäumen auf. Badebekleidung kannten wir so wenig wie Scham. Auch den vielen Tschechen, die mit uns dort zelteten, war diese fremd. Wir schlossen stets neue Freundschaften, die über Jahre hielten. Hurabs zum Beispiel, die in Kopřivnice lebten, wo der Mann als Ingenieur in den Tatra-Werken arbeitete, besuchten uns wiederholt außerhalb der Campingsaison und wir sie, auch 1968, wo Pavel uns in der Küche das „Manifest der 2000 Worte“ übersetzte … Das aber ist schon wieder eine andere Geschichte.

Wir fahren noch heute regelmäßig nach Bansin auf Usedom. Nach 1990 erlebten wir dort schreckhafte Wessis, die im Angesicht eines weißen Hinterns rot anliefen. Mit dem nackten Fleisch auf den Titeln ihrer Magazine und der BILD, mit barbusigen Barfrauen und Bordsteinschwalben, mit Puffs und Peepshows hatten sie keine Probleme: Das gehörte zu ihrer doppelbödigen bürgerlichen Moral. Bei Normalnackten raste jedoch der Puls. In ihren Augen kannte die Schamlosigkeit der Ossis keine Grenzen, die wählten (damals) PDS und unverändert die Hüllenlosigkeit, obgleich es doch jetzt so schöne bunte Bademoden gab, die sie in der Diktatur so vermisst hatten und darum nackt baden mussten.

Ob auf Usedom oder auf dem Darß, bei Neuendorf auf Hiddensee oder Altefähr auf Rügen – überall knickten die Zuständigen opportunistisch ein und schieden die Nackten von den Bekleideten. Die ausgewiesenen FKK-Strände wurden immer kleiner und an die Peripherie verbannt, gleich neben dem Hundestrand. Jaja, die Scham unterscheidet die Menschheit vom Tierreich.

Darum wurde vor wenigen Jahren im Berliner Plänterwald auch eine 37-jährige Mutter, die sich mit ihrem Sohn neben der Plansche sonnte, amtlich aufgefordert, ihre Blöße zu bedecken. Der Sicherheitsdienst kam und forderte sie auf, einen BH anzulegen. Die Gemaßregelte zeigte auf die Männer mit freiem Oberkörper und fragte nach der Gleichberechtigung. Am Ende kamen zwei Polizisten, leisteten dem Sicherheitsdienst Amtshilfe und erteilten der Frau einen Platzverweis. Eine namentlich zitierte Siebzigjährige verstand die Aufregung nicht. „Wir sind doch nicht in Bayern, sondern in Berlin.“ (Berliner Kurier, 1. Juli 2021) Und Schaden würden auch die spielenden Kinder gewiss nicht nehmen. Vermutlich hatten sie alle mal an der Mutterbrust gelegen.

Wir leben in wahrlich widersprüchlichen Zeiten: Noch nie wurde soviel Pornografie konsumiert wie gegenwärtig (wo von Nacktheit die Rede ist, liegt dieses Thema nicht fern, denn Nacktheit wird heutzutage ausschließlich sexualisiert – was das eigentliche Problem darstellt). Und auf der anderen Seite haben Prüderie und Verklemmtheit das Niveau der Adenauer-Ära erreicht. Vorwärts also in die Vergangenheit. Die Bigotterie gründet auf dem Alten Testament. Als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis aßen und merkten, dass sie nackt waren, bedeckten sie ihre Blöße mit Feigenblättern, steht in der Bibel. Und es heißt auch, Königin Victoria habe sich nach dem Besuch des Victoria and Albert Museums in London beschwert, worauf der Kopie der Davidstatue ein Feigenblatt aus Gips umgehängt wurde, um das Schamgefühl der Besucher zu schonen. Ich bin mir darum nicht sicher, ob nur reiner Vandalismus irgendwelche Banausen veranlasst hatte, vor wenigen Wochen im Park von Sanssouci einer Marmorfigur den Penis abzuschlagen. Anderenorts sah ich antike Skulpturen, deren Genital nachträglich mit einer Bedeckung unsichtbar gemacht worden war, was wohl aufs selbe hinausläuft.

Was haben also Petrus auf Michelangelos  Fresko „Kreuzigung des Heiligen Petrus“ in der vatikanischen Cappella Paolina und Ritter Kahlbutz in der brandenburgischen Dorfkirche Kampehl gemeinsam: Ihr bestes Stück wird von einem Tuch bedeckt.

Konsumiere ich die Medien, muss ich konstatieren: Überall nimmt die Scham zu. Ausgenommen vielleicht in der Politik. Da fallen stetig die Schamgrenzen. Und das ist anscheinend kaum noch jemandem peinlich.