Der seit 2018 in Aix-en-Provence waltende Sommerintendant Pierre Audi geht bei den Stücken und gebuchten Namen vor allem auf Nummer sicher. Als Komponisten verschrecken Christoph Willibald Gluck, Jean Philippe Rameau, Giacomo Puccini und Claude Debussy niemanden. Auch die dafür zuständigen Regisseure Dimitri Tscherniakov, Claus Guth, Andrea Breth und Katie Mitchell haben neben ihrem Renommee schon diverse Erfolge in Aix-en-Provence produziert. Zu den großen Hauptproduktionen kam in diesem Jahr noch Barrie Kosky mit einem im wahrsten Wortsinn verrückten Miniaturen-Doppel hinzu.
Dass ausgerechnet die acht Jahre nach ihrer Premiere ins Grand Théâtre de Provence zurückkehrende „Pelleas et Melisande“ von Katie Mitchell die Inszenierung des laufenden Jahrgangs wurde, die exemplarisch keinerlei Wünsche offenließ, mit ihrer Frische verblüffte und auch in der aktuellen Besetzung faszinierte, gehört zu den Vorzügen eines Festivals, das schon lange bewusst auf den Synergieeffekt von internationalen Koproduktionen setzt. So können Wiederaufnahmen auch schon mal den Maßstab für den laufenden Jahrgang liefern. Was die finnische Dirigentin Susanna Mälkki an dramatischer Delikatesse aus dem Orchestre de l’Opéra de Lyon herausholte, wie Julia Bullock die Mélisande, Laurent Naouri den Golaud oder Hut Montague Rendall den Pelléas zu überzeugenden Protagonisten eines atemberaubend spannenden und die Erotik des Stückes freilegenden Thrillers machten, das war einfach faszinierend.
Ähnlich überzeugend fiel die Rückkehr von Regieikone Andrea Breth für Puccinis „Madama Butterly“ ins Théâtre de l’Archevêché nicht aus. Sie verlässt sich nahezu völlig auf die Geschichte und erzählt sie im Grunde eins zu eins, ohne sich und ihr Publikum darin zu verhaken. Das Gerüst eines von einem Laufband umgebenen japanischen Hauses als Einheitsbühnenbild, die folkloristischen Kostüme und die hinzugefügten, hinter Masken verborgenen japanischen Tänzer thematisieren die von Puccini mit emotionalem musikalischem Aufwand ausgestattete fernöstliche Fremdheit, indem sie sie zeigt, aber nicht wirklich hinterfragt. Diese streng regulierte fremde Welt kollidiert so mit der von Pinkerton verkörperten westlichen Arroganz, dass es Cio-Cio-Sun am Ende das Leben kostet. Immerhin bot dieses Japanarrangement einen Rahmen, in dem Ermonela Jaho als intensiv gestaltende Butterfly ohne jeden hochdramatischen Überdruck mit einem vokalen Porträt dieser Partie auf Festspielniveau überzeugen konnte. Daniele Rustioni und das Orchestre de l’Opéra de Lyon lieferten dazu den durchaus passenden melancholisch verdunkelten Sound.
Auch unter freiem Himmel im Théâtre de l’Archevêché stellten Claus Guth und Raphaël Pichon ihr Rameau-Projekt „Samson“ vor. Beide waren hier nicht nur als Regisseur und Dirigent am Werke, sondern auch als (Mit-)Autoren. Sie dienen damit immerhin dem französischen Barock-Komponisten schlechthin und seinem Librettisten Voltaire! Mit dieser „freien Kreation“ wird die königliche Zensur des Ancien Régime korrigiert, die einst durch ihren Eingriff den „Samson“-Opernplan vermasselt hatte. Mit sensiblem Gespür für den biblischen Prototypen des zum Selbstmordattentäter radikalisierten Samson und unter Nutzung der barocküblichen Pasticcio-Technik haben beide mit Bezug auf die biblische Vorlage einen nachvollziehbaren Handlungsstrang abgeleitet und dazu passende Musiknummern zusammengefügt. Einmal quer durch den ganzen Rameau und zurück, kombinieren sie 50 Musiknummern aus einem Dutzend seiner Opern und Ballette. Da Raphaël Pichon mit seinem Pygmalion Orchester vor allem das Elegische der Musik zelebrierte, wurden gelegentliche Ausbrüche zu einem puren Genuss. Zum Faszinosum wurde das Ganze freilich erst durch die präzise Regie von Guth und die perfekte Ruinenopulenz der Bühne von Etienne Pluss, die erschreckend genau über die Zeiten in die Gegenwart verweist. Neben Jarrett Ott, der ein vokal solides Samson-Mannsbild glaubwürdig verkörperte, glänzte vor allem Jacquelyn Stucker in jeder Hinsicht als die von seinen Feinden auf ihn angesetzte Dalia.
Zum Festspielauftakt hatte Dimitri Tscherniakov im Grand Théâtre de Provence Glucks „Iphigénie en Aulide“ (1774) und „Iphigénie en Tauride“ (1779) als eine Geschichte mit Fortsetzung inszeniert. Für Tscherniakovs Verhältnisse dicht an der Vorlage und eher mit Hang zum Einzelporträt hinter dem Gerüst eines abstrakten, bühnenfüllenden Hauses. Am Ende des ersten Teiles beobachtet Iphigenie von der Seite, wie ihre Sippe, samt Großmaul-Bräutigam Achill, an ihrer Leiche (die hier von der Göttin Diana gedoubelt wird) den nun endlich möglichen Kriegseintritt Agamemnons bejubelt. Mehr Traumatisierung geht nicht. Die reicht so weit, dass sie am Ende des noch düstereren zweiten Teils bleibt wo sie ist. Für eine Rückkehr in ein eigenes Leben ist sie nicht mehr zu gebrauchen. Emmanuelle Haïm sorgt mit den Musikern des Orchesters Le Concert d’Astrée für einen geschmeidig vorwärtsdrängenden Sound, der den Interpreten genügend Raum zur vokalen Glanzentfaltung in diesem wortreichen Operndrama lässt. Vor allem Corinne Winters als Iphigenie sowie Florian Sempey und Stanislas de Barbeyrac als Orest und Pylades hinterlassen dabei einen bleibenden Eindruck.
Eine Musiktheater -Grenzerfahrung gab es im Théâtre du Jeu de Paume. Dort inszenierte Barrie Kosky einen kammermusikalischen Doppelabend aus Peter Maxwell Davis’ acht Liedern „For a mad King“ und den „Kafka Fragmenten“ von György Kurtág. Der erste Teil wurde zu einer Steilvorlage für Johannes Martin Kränzle, der sich weit in den Wahnsinn, den er verkörperte, hineinwagte. Wie der sich hier von Kosky entfesseln ließ, war im doppelten Wortsinn tatsächlich der pure Wahnsinn! Der Regisseur trieb dabei den Minimalismus der Form für ein Maximum an Wirkung auf die Spitze. Gleich nachdem Dirigent Pierre Bleuse mit den sechs Instrumentalisten des Ensemble Intercontemporain in einem regelrechten akustischen Schreckmoment den Saal geflutet hatte, lieferte sich Kränzle dem Wahnsinn eines Königs aus, der einmal trotzig von sich behauptete, er sei nicht krank, sondern nur nervös. So wie der grandiose Sängerdarsteller Körper, Stimme und Mimik einsetzte, drang er in Regionen exzessiven Ausdrucks vor, von denen man bislang gar nicht wusste, dass es die gibt.
Den zweiten etwas ausufernden Teil dieser besonderen Produktion bestritten dann Anna Prohaska und Patricia Kopatschinskaja im Duett von Stimme und Instrument. Auch hier ging es um Grenzerfahrungen, die sich auf Worte von Kafka beziehen. Am Ende wurden zwei Stücken herausfordernder Moderne, zwei außergewöhnliche Sängerdarsteller und ein Regisseur bejubelt, der mal wieder bewiesen hatte, dass er alles kann.
Schlagwörter: Aix-en-Provence, Festival, Joachim Lange