27. Jahrgang | Nummer 16 | 29. Juli 2024

Urlaub für immer

von Henry-Martin Klemt

In der Zweifelsfalle stehe ich

mit dem Gesicht zur Stille

hin. Mit offenem Mund

atme ich und schweige. Schweige

ein und aus. Verneige mich vor der

Photosynthese. Ein Wurzelloser

im Wald, seh ich mich satt an der

hungrigen Anarchie. Die schnellfüßige

Frühlingsliebe ist mein Orakel. Mein

Zauberspruch sind die Vogelzüge. Nichts

hab ich vergessen. Nichts zu sagen,

was nicht in aller Munde schon

zerkaut und zerredet wäre. Ich glaube

an Kriege, an Säuberungen, an den

Auszug aus allen Paradiesen und aus

Ägypten, an den Bruch eines jeden

Versprechens wie aller Pakte des

Packs. Ich glaube allem Erlebten, dass

alles vergessen wird, wenn die Sonne

aufgeht, die Schlafwandler an ihr

Tagwerk marschieren. Kriegsflüchtig,

friedenssüchtig. Die Schoßhunde

der Macht verbellen eine untergegangene

Welt, damit sie nicht den Untergang

stört, der alle Tage seinen Knochen

wirft in den schönen Zwinger der

Historiker. Unbelehrbar, aber gut zu

dressieren im erdumspannenden Netz

der Gewißheiten, organisiert sich

Menschheit wie Eisenspäne zwischen

den Polen der guten Sache und der

guten Sache, unversöhnlich, und die

Spiegel spucken die Gesichter aus,

bevor sie erblinden. Ohnmacht will

wenigstens rechthaben. Macht ist

zu schwer, zu blutig und niemals gut

genug auf Dauer. Weltmeisterschaft

mit ewigem Viertelfinale. Immer on stage,

unplugged und auf eigene Rechnung. Da

ist es einfacher, wählen zu gehen, die

Zeche zu zahlen und die Zeche zu

prellen, wo’s geht, nämlich unten, sich

stark zu fühlen, wenn die Ladung der

Pole mal wechselt, als hätte man’s

selber vollbracht. Oder man nimmt,

was man kriegen kann: Her mit dem

Brot und den Spielen! Dort der

Knüppel, hier das Transparent. Der

Wasserwerfer dort, hier das heraushängende

Auge. Hier die gestürmte Börse, den Dreck

aus dem Fenster hinaus, dort die Voll-

strecker, Stiefel treppauf. Wie schreit man:

Motherfucker in geschlechtersensibler

Sprache, damit sich jederzeit jeder

gemeint fühlen kann? Vergewaltigungen

in Beton. Landschaft mit brennender

Lunge. Schön, wenn vergangene Zeiten

Kleider leihen und Lieder und Lust

kommender Zeit. Wenn die Felder

Schätze ausschwären und Geheimnisse

preisgeben und die Steine Geduld und

die Brandung Nichtaufgebenkönnen.

Wenn die Henker schrumpfen, den

abgeschlagenen Kopf in der Faust,

auf das Gardemaß der Amöbe. Das

habe ich alles gesehen, die Gegenwart,

die schon die Zukunft war, die noch

Vergangenheit bleibt. Das hast auch du

alles gewußt seit dem Tag, als der erste

Schlag dich traf aus dem Nichts, als

der erste Verrat dich würgte. Warum

liebst du einen Menschen? Um dich

lieben zu können? Du liebst, wenn es

gelingt, die Menschheit in dir. Dort

ist sie aufgehoben als Hoffnung,

dass die Räder unter deine Kinder

kommen, die leichtsinnigen, durch

nichts geschützt vor der Verzweiflung

am heiteren Morgen, als dass sie

da sind und eine Nachricht

empfangen, die sie betrifft. Urlaub

für immer: mein Privileg und mein

Wald, der dem Meer weicht, das der

Wüste Platz machen muss, der Steppe,

aus der eine Stadt wächst der wurzellosen

Dünnhäuter. Verletzbar sind sie, faul und

fruchtbar. Friedliche Lügner und auf-

richtige Mörder. Unfaßbare, die einander

berühren in einem, ja doch: gemeinsamen

Traum.

 

Juli 2024