In der Zweifelsfalle stehe ich
mit dem Gesicht zur Stille
hin. Mit offenem Mund
atme ich und schweige. Schweige
ein und aus. Verneige mich vor der
Photosynthese. Ein Wurzelloser
im Wald, seh ich mich satt an der
hungrigen Anarchie. Die schnellfüßige
Frühlingsliebe ist mein Orakel. Mein
Zauberspruch sind die Vogelzüge. Nichts
hab ich vergessen. Nichts zu sagen,
was nicht in aller Munde schon
zerkaut und zerredet wäre. Ich glaube
an Kriege, an Säuberungen, an den
Auszug aus allen Paradiesen und aus
Ägypten, an den Bruch eines jeden
Versprechens wie aller Pakte des
Packs. Ich glaube allem Erlebten, dass
alles vergessen wird, wenn die Sonne
aufgeht, die Schlafwandler an ihr
Tagwerk marschieren. Kriegsflüchtig,
friedenssüchtig. Die Schoßhunde
der Macht verbellen eine untergegangene
Welt, damit sie nicht den Untergang
stört, der alle Tage seinen Knochen
wirft in den schönen Zwinger der
Historiker. Unbelehrbar, aber gut zu
dressieren im erdumspannenden Netz
der Gewißheiten, organisiert sich
Menschheit wie Eisenspäne zwischen
den Polen der guten Sache und der
guten Sache, unversöhnlich, und die
Spiegel spucken die Gesichter aus,
bevor sie erblinden. Ohnmacht will
wenigstens rechthaben. Macht ist
zu schwer, zu blutig und niemals gut
genug auf Dauer. Weltmeisterschaft
mit ewigem Viertelfinale. Immer on stage,
unplugged und auf eigene Rechnung. Da
ist es einfacher, wählen zu gehen, die
Zeche zu zahlen und die Zeche zu
prellen, wo’s geht, nämlich unten, sich
stark zu fühlen, wenn die Ladung der
Pole mal wechselt, als hätte man’s
selber vollbracht. Oder man nimmt,
was man kriegen kann: Her mit dem
Brot und den Spielen! Dort der
Knüppel, hier das Transparent. Der
Wasserwerfer dort, hier das heraushängende
Auge. Hier die gestürmte Börse, den Dreck
aus dem Fenster hinaus, dort die Voll-
strecker, Stiefel treppauf. Wie schreit man:
Motherfucker in geschlechtersensibler
Sprache, damit sich jederzeit jeder
gemeint fühlen kann? Vergewaltigungen
in Beton. Landschaft mit brennender
Lunge. Schön, wenn vergangene Zeiten
Kleider leihen und Lieder und Lust
kommender Zeit. Wenn die Felder
Schätze ausschwären und Geheimnisse
preisgeben und die Steine Geduld und
die Brandung Nichtaufgebenkönnen.
Wenn die Henker schrumpfen, den
abgeschlagenen Kopf in der Faust,
auf das Gardemaß der Amöbe. Das
habe ich alles gesehen, die Gegenwart,
die schon die Zukunft war, die noch
Vergangenheit bleibt. Das hast auch du
alles gewußt seit dem Tag, als der erste
Schlag dich traf aus dem Nichts, als
der erste Verrat dich würgte. Warum
liebst du einen Menschen? Um dich
lieben zu können? Du liebst, wenn es
gelingt, die Menschheit in dir. Dort
ist sie aufgehoben als Hoffnung,
dass die Räder unter deine Kinder
kommen, die leichtsinnigen, durch
nichts geschützt vor der Verzweiflung
am heiteren Morgen, als dass sie
da sind und eine Nachricht
empfangen, die sie betrifft. Urlaub
für immer: mein Privileg und mein
Wald, der dem Meer weicht, das der
Wüste Platz machen muss, der Steppe,
aus der eine Stadt wächst der wurzellosen
Dünnhäuter. Verletzbar sind sie, faul und
fruchtbar. Friedliche Lügner und auf-
richtige Mörder. Unfaßbare, die einander
berühren in einem, ja doch: gemeinsamen
Traum.
Juli 2024
Schlagwörter: Henry-Martin Klemt, Urlaub für immer