27. Jahrgang | Nummer 15 | 15. Juli 2024

Die Faust in den Jazzhimmel strecken

von Thomas Behlert

Gucke ich auf die jüngsten rechtslastigen Wahlergebnisse in Europa, kommt mir das große Kotzen. Irgendwann liegt alles in Schutt und Asche und dann will es wieder keiner gewesen sein. Unsere deutschen Musiker haben da aktuell so gut wie nichts dagegen zu setzen.

In den Jahrzehnten des Kalten Krieges gab es wenigstens noch Liedermacher, die kritische Texte in die Welt hinaus sangen. Hannes Wader, Dieter Süverkrüp oder auch Franz-Josef Degenhardt stimmten so manches gesellschaftskritische Lied an. Wenn es gar nicht anders ging und die Polizei bereits im Anmarsch war, mussten es „Dem Morgenrot entgegen“ oder „Die Moorsoldaten“ sein.

Nun kommt ein außergewöhnliches Album in die Läden –mit Liedern, die man kennt, einstmals mitsang und fast schon vergessen hatte. Fünf Musiker aus Deutschland, der Schweiz und Griechenland, die antifaschistische, antirassistische und antiimperialistische Lieder der Widerstandsbewegung mit Instrumenten zum Vortrage bringen, die man aus der Jazzmusik kennt und dem Hörer ganz gewaltig die Ohren frei blasen können. Wer sich mit Widerstandsliedern, Arbeiterliedern, Partisanenliedern und Kampfliedern gegen den Faschismus beschäftigt, wird die eingespielten Stücke kennen, die in einer neuartigen Melodiengebung von der Band Ernte auf dem gleichnamigen Album präsentiert werden.

Hauptverantwortlich ist der Saxophonist und Klarinettenspieler Benjamin Weidekamp, der die Auswahl und die Idee der Stücke so beschreibt: „Da Anti-Militarismus in Deutschland und Europa gerade groß aus der Mode kommt und man wieder daran gewöhnt wird, Projekte wie eine Kindergrundsicherung für Rüstungsausgaben zu entfinanzieren, erscheint es mir umso wichtiger, diese Musik zum Klingen zu bringen.“

Den Anfang macht das portugiesische „Venham mais cinco“, das gegen die vierzig Jahre währende faschistisch-diktatorische Salazar-Herrschaft – Gründungsmitglied der NATO durfte das Land trotzdem werden, denn Salazar war zwar ein Schweinehund, aber er war unser Schweinehund – eingesetzt wurde und den verklausulierten Aufruf enthält, sich zu versammeln und sich auf der Straße dem Regime entgegenzustellen. Ernte hat es zu einem Instrumental umgewandelt, das mit der Melodie zum Kampf aufruft, die sich ins Hirn einfräst und die Faust zum Himmel strecken lässt.

Das eindringliche Lied „Die Moorsoldaten“, das 1933 von Häftlingen des Konzentrationslagers Börgermoor im Emsland geschrieben und zwei Tage später von der Lagerleitung verboten wurde. Das Quintett, zu dem auch Uli Kempendorff (Tenorsaxophon, Klarinette), die Griechin Evi Filippov (Vibraphon), Kasper von Grühigen (Bass) und David Meier (Schlagzeug) gehören, legen einen schleppenden Marsch-Rhythmus vor, der an die erschöpften Häftlinge erinnert, die im Lagergleichschritt Tag für Tag ins Moor marschierten.

Das Arbeiterlied „Dem Morgenrot entgegen“, das eigentlich als fröhlicher und dynamischer Song gilt, mit der Melodie des Andreas-Hofer-Liedes, bekam 1907 seinen Text durch den Sozialdemokraten Heinrich Eildermann. Um es nun der heutigen Zeit anzupassen, ersetzt Ernte zunächst die Fröhlichkeit durch eine freakige Jazzvariante, die in den Free-Jazz abhebt, verzerrend die dumpfe politische Wirklichkeit darstellend, die sich aber am Ende freikämpft und eine freundliche Zukunft entdeckt.

Song Sechs ist das von Paul Dessau komponierte „Friedenslied“, das sehr getragen und eindringlich den Wunsch nach Frieden im Hörer festsetzt und mit dem darauffolgenden „Black and White“, von Ernst Busch ins Deutsche übertagen, die Verbrüderung weißer und schwarzer Proleten beschwört und einen Song mit jeder Menge Groove, traditionellen Jazzmomenten und einer Ableitung von „St Thomas“ von Sonny Rollins daraus geformt.

Schließich erklingt das feine und geradlinige „Junge Pioniere (lieben die Natur)“, das allerdings von der Jazzgemeinde Ernte zu einer apokalyptischen Notenfolge verarbeitet wurde. Uli Kempendorff suchte das Lied aus, um an den krassen Widerspruch von Song und DDR-Wirklichkeit zu erinnern. Braunkohlegruben in der Lausitz, Luftverschmutzung in Bitterfeld-Wolfen und die allgemeine Zerstörung ganzer Landstriche standen im krassen Widerspruch zu solchen Liedern. Und so ermahnt „Junge Pioniere“ heutige Genrationen, den Umweltschutz stärker voranzutreiben.

 

Ernte: „Ernte“, Label: ‎ Enja & Yellowbird Records (Edel), Deutschland 2024, ab 16,07 Euro.