Am gleichen Tage, als der Rechtsanwalt Friedrich Wolff in seinem Haus in Wandlitz-Stolzenhagen einschlief, starb in Potsdam in einem Pflegestift der Arzt Rudolf Steinhoff. Es war Montag, der 10. Juni 2024. Der eine freute sich darauf, in wenigen Wochen 102 Jahre alt zu werden, der andere hatte vermutlich nicht einmal bemerkt, dass er im Vormonat 97 geworden war. Vor geraumer Zeit schon hatte er sich in eine andere Welt verabschiedet, die Verbindung in die unsrige war schon lange abgerissen.
Und während vom Hinscheiden des ersteren das ganze Land erfuhr – mit aller Berechtigung: Friedrich Wolff war ein „Jahrhundertanwalt“ (Berliner Zeitung) –, nahm kaum jemand Notiz von Steinhoffs Ende. Nicht einmal die Familie im Westen. Für sie war er schon lange gestorben.
Rudolf Steinhoff war der Sohn des ersten Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg. Ein langjähriger Sozialdemokrat, seit 1946 SED, den sein späterer Nachfolger Manfred Stolpe einst mit warmen Worten würdigte. Eine öffentliche Ehrung jedoch blieb aus. Vermutlich nahm man übel, dass jener Carl Steinhoff als erster Innenminister der DDR am 8. Februar 1950 das Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit in die Volkskammer einbrachte und dessen Notwendigkeit auch überzeugend begründete. Dass er 1952 sein Ministeramt auf Geheiß Moskaus verlor und darum ein Opfer Stalins war, der angesichts des Kalten Krieges auf diesem Posten einen Militär haben wollte, spielte in der heutigen Beurteilung keine Rolle. Carl Steinhoff nahm seine Ablösung gelassen hin, sie habe ihm den zweiten Herzinfarkt erspart, bemerkte er später einmal. Er bekam eine Professur und lehrte an der Humboldt-Universität zu Berlin Verwaltungsrecht. Im Laufe der Jahre erhielt er alle Ehrungen, die die DDR zu vergeben hatte: vom Vaterländischen Verdienstorden bis hin zu dem nach Karl Marx benannten. Später zog er sich ins Privatleben nach Wilhelmshorst bei Potsdam zurück, wo er 1981 auch beigesetzt wurde. Im dortigen Familiengrab befinden sich ebenfalls die Urnen seiner Frau Margarete, der Tochter Elisabeth, der Schwiegertochter Gisela und nunmehr also die Asche des Sohnes Rudolf.
Die wiederholten Vorstöße des einstigen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow in der Brandenburger Staatskanzlei, das Grab des ersten MP zum Ehrengrab zu erklären und für eine spezielle Aufmerksamkeit zu werben, wurden stets abschlägig beschieden. Die Landesverfassung kenne – etwa im Unterschied zum benachbarten Berlin – das Institut des Ehrengrabes nicht, hieß es immer. Da müsse man sich an die Gemeinde wenden. Bei der aber fand der Bittsteller auch kein Gehör. Inzwischen ist Modrow ebenfalls tot, und die zuständigen Kommunalpolitiker haben gewechselt: Vielleicht sollte man einen neuen Vorstoß bei den zuständigen Gremien vor Ort starten.
Mindestens zwei Indizien illustrieren die sehr eingeschränkte Zuneigung zu Carl Steinhoff in der Potsdamer Staatskanzlei.
Ein Wilhelmshorster Nachbar von Carl Steinhoff, wohl auch sein später Freund, war der Maler Kurt-Hermann Kühn, ein Schüler von Max Schwimmer, Arno Mohr und Horst Strempel. Bis zu seinem Tod 1989 war Kühn über zwei Jahrzehnte auch ehrenamtlicher Vorsitzender des Potsdamer Bezirksverbandes Bildender Künstler der DDR, das aber nur nebenbei und als versteckter Hinweis auf eine ihm angelastete „Verstrickung“. Unter Kühns nachgelassenen Werken (von denen einige im öffentlichen Raum der Landeshauptstadt zu sehen sind, andere wurden beseitigt) war auch das Porträt des einstigen Ministerpräsidenten Carl Steinhoff. Kühns Sohn war der irren Auffassung, dass dafür ein gewisses Interesse in der Staatskanzlei bestehen könnte. Doch nicht einmal als Dauerleihgabe wollte man das 80 mal 150 Zentimeter große Bild haben.
Auch die Landtagsfraktion der Linken und die ihr nahestehende Rosa-Luxemburg-Stiftung winkten ab. Man schenke die Aufmerksamkeit lieber den lebenden als den toten Künstlern, hieß es tatsächlich zur Begründung, was Kühn jr. zu der sarkastischen Bemerkung veranlasste, dass dies wohl zuträfe. Marx sei ja auch tot …
Allerdings sah der Landesverband der Linken, also die Basis, das anders. Er nahm das Geschenk dankbar an – seit November 2022 hängt das Porträt von Carl Steinhoff im Potsdamer Lothar-Bisky-Haus.
Und der andere Beleg, dass Steinhoff in der Staatskanzlei nicht gelitten ist: Rudolf Steinhoff, über Wien und Hamburg wieder heimgekehrt, hatte 2012 in der edition ost die Biografie seines Vaters herausgebracht. Nachdem er dem Westen den Rücken gekehrt und in Wilhelmshorst Quartier genommen hatte, fuhr er in die Staatskanzlei nach Potsdam, um dem aktuellen Nachfolger des Vaters seine Aufwartung zu machen. Schon wenige Tage später bekam er Post von der Büroleiterin des Regierungschefs: „Sehr geehrter Herr Dr. Steinhoff, Sie gaben in der Staatskanzlei ein Buch ‚Carl Steinhoff – Die Biografie’ für Herrn Ministerpräsident Woidke ab – über diese Geste hat er sich sehr gefreut. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Herr Ministerpräsident u. a. aus Sicherheitsgründen und zur Korruptionsprävention keinerlei Pakete und Päckchen sowie Geschenke annimmt. In Hinsicht auf ein nettes und ‚harmloses’ Präsent wie das Ihre mag diese Regelung übertrieben erscheinen, aber um Verwirrung vorzubeugen und Ausnahmen zu vermeiden, sende ich Ihnen Ihr Buch heute wieder zurück. Mit freundlichen Grüßen.“
Ach, hätte die Staatskanzlei doch besser geschwiegen und das Buch einer Bibliothek übereignet oder in einem Papierkorb entsorgt. Stattdessen diese beleidigende Rücksendung, das war stillos und demütigend zugleich. Steinhoff war zutiefst verletzt und wunderte sich nicht mehr, weshalb sich überall die Regierten von ihrer Regierung abwandten – die „da oben“ waren, wie er nun selbst erfahren hatte, dem Wahlvolk doch schon lange entrückt. Steinhoff wählte nie wieder SPD.
Mit einer gewissen Bitterkeit erinnerte er sich auch an eine Begegnung mit der Landesministerin Regine Hildebrandt, die er in den neunziger Jahren auf einer SPD-Wahlveranstaltung in Caputh getroffen hatte. Sie fragte ihn: „Carl Steinhoff? Wer war das?“ Das nahm er ihr damals nicht einmal übel, woher auch sollte sie seinen Vater kennen, der beispielsweise 1947 auf der gesamtdeutschen Ministerpräsidentenkonferenz – er war in München der Sprecher der fünf ostdeutschen Regierungschefs – für die deutsche Einheit gekämpft hatte und hinnehmen musste, dass die Westmächte zu diesem Zeitpunkt schon längst die Teilung beschlossen hatten. Auch darum stand sein Name nicht in den Ruhmesblättern der neuen Zeit.
Dass diese kapitalistische Gesellschaft geschichtslos dahinlebt, spürte Rudolf Steinhoff immer mehr. Das wird ihr noch mal zum Verhängnis werden, sagte er, bevor seine eigene Erinnerung sukzessive ausgelöscht wurde. Nun also ist der Körper seinem Geist nachgefolgt. Mit ihm verschwand wieder ein Stück deutscher Geschichte. Bald ist niemand mehr da, der die Frage beantworten kann: Wer war Steinhoff?
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