Ein Werk des deutschen Tanztheaters hatte vor nahezu 100 Jahren einen sensationellen Erfolg und es stünde den Tanzkompanien und Ballettensembles unserer Zeit gut zu Gesicht, wenn es wieder aufgeführt würde. Es ist eine Tanzwerk über den Krieg. Es ist eine Tanzwerk gegen den Krieg. Es ist „Der Grüne Tisch – ein Totentanz in 8 Bildern“, die Autoren sind: Kurt Jooss (Choreographie), Fritz Alexander Cohen (Musik) und Hein Heckroth (Kostüm und Maske). Die Uraufführung fand innerhalb eines Choreographie-Wettbewerbs am 4. Juni 1932 in Paris statt. Eine hochkarätige Jury erkannte: Das ist der Erste Preis.
Das erste Mal in der Geschichte des Tanzes wurde Krieg in seinen gesellschaftlichen Zusammenhängen gezeigt. „Die schwarzen Herren“ – Politiker und Diplomaten, die in höflicher Manier und streitsüchtigem Diskutieren keine Einigung erzielen, nur in der Entscheidung für Krieg herrscht Einmütigkeit; die „Soldaten“, die bereitwillig zur Stelle sind und sich üben im Exerzieren und Kämpfen; ihre „Frauen“, die angsterfüllt und bange von ihren Männern Abschied nehmen. Da ist auch „Der Schieber“, der nach der Schlacht wie eine Ratte über das Feld huscht, einem toten Soldaten den Ring vom Finger nimmt und ihn wie eine Siegestrophäe anschaut. Und da ist auch „Der Tod“, der alles Beherrschende, der alle in sein Reich holt, Männer und Frauen, Alte und Junge.
Die „Soldaten“ sterben im Kampf. Wie eine schwere Granate stürzt „Der Tod“ auf das Schlachtfeld und holt sich seine Opfer. „Die alte Mutter“ stirbt vor Gram, der Tod nimmt sie sanft in die Arme und trägt sie wie ein Kind, „Die alte Mutter“ lehnt ihren Kopf beruhigt an seine Brust. „Die Frau“ (Partisanin) wird von einem Erschießungskommando hingerichtet, „Der Tod“ befehligt das Kommando. „Das junge Mädchen“ glaubt, den Geliebten zu erkennen, es ist aber „Der Tod“, der mit ihr ihren letzten Walzer tanzt. Am Ende tanzen alle Kriegstoten den Totentanz. Seelenlos und marionettenhaft bewegen sie sich wie Figuren einer Spieluhr. In der Regie: „Der Tod“. Nur einer fehlt, „Der Schieber“. Er entkommt.
Im letzten Bild verhandeln wieder „Die schwarzen Herren“ wie im ersten Bild. Die Musik wird immer leiser und verklingt in die Unendlichkeit.
Die Wege und die Irrwege der Vorbereitung dieses Tanzwerkes zu beschreiben, wäre ein Kapitel für sich. Allein die Musik. Es gab den Plan einer Orchesterfassung für 32 Musiker. In Paris stand nur ein 16-köpfiges Orchester zur Verfügung. Die Partitur umzuschreiben erlaubte die drängende Zeit nicht, Gäste zu holen erlaubte der Finanzplan nicht. Man entschied sich für eine Fassung für zwei Klaviere, damals eine Notlösung, dann aber als geniale Idee dauerhaft geblieben. Die Musik zu den „Schwarzen Herren“ bereitete den Autoren Kopfzerbrechen. Als aus einem nahen Café Tangomusik ertönte, war die Idee geboren: „Die schwarzen Herren“ verhandeln zu gleisnerischer Tangomusik.
Mehrmals stand die Teilnahme am Wettbewerb auf der Kippe und mehrmals wurde das Konzept von Grund auf geändert. Eine der ersten Ideen wäre mehr für den Film geeignet gewesen als für Ballett, unter dem immer mehr drängenden Zeitdruck des Wettbewerbs entstanden das seitdem unveränderliche Libretto, Choreographie, Musik, Kostüme und Bühnenbild.
Dabei sind Bezüge zu künstlerischen Ereignissen deutlich nachweisbar. Der Lübecker Totentanz war Vorbild für den Totentanz im „Grünen Tisch“. Die Masken für „Die schwarzen Herren“ beziehen sich auf die Karikaturen des Juli-Parlaments von Honoré Daumier. Kostüm und Maske des „Todes“ ist Skelett und Uniform gleichermaßen verpflichtet, angeregt von Alfred Kubins Zeichnung „Der Krieg“.
Hervorragende Tänzerpersönlichkeiten übernahmen Rollen im „Grünen Tisch“. „Der Tod“: Kurt Jooss, Jean Cébron, Patricio Bunster, später dann „Die alte Mutter“: Pina Bausch.
Der Erfolg des damals so bezeichneten „Ballet Jooss“ war außergewöhnlich. Es folgten Gastspiele in den Niederlanden, Frankreich und den USA. 1933 jedoch war Deutschland nicht mehr Deutschland. Cohen war Jude und Jooss war mit seinen Gedanken und Taten den neuen Herrschenden alles andere als willkommen. Im englischen Dartington bot sich für Jooss und seine Gleichgesinnten die Möglichkeit, ein Ausbildungszentrum für Tanz zu etablieren. Es war über Jahre erfolgreich. 1949 war Jooss wieder in Essen und baute an der Folkwangschule eine weltweit bedeutende Ausbildungsstätte auf. Kurt Jooss starb am 22. Mai 1979.
Seine Tochter Anna Markard als Bevollmächtigte und Vertraute mit dem Schaffen von Kurt Jooss studierte in aller Welt seine Werke ein und garantierte eine unverfälschte Sicht und werkgetreue Interpretation. In der Tanzabteilung der Folkwang-Hochschule Essen-Werden gibt es eine Professur für das künstlerisch-pädagogische Erbe von Kurt Jooss, Sigurd Leeder, Hans Züllig und Jean Cébron.
Parallelen zu unserer Zeit – hier und heute – liegen auf der Hand. Ideen oder Gespräche, die Möglichkeiten eines Friedens zu erkunden, werden verworfen, die Stimmen, die immer mehr Geld für Rüstung verlangen, werden immer lauter. Rüstung aber bedeutet Geld für Maschinen zum Töten, Vernichten und Zerstören und die Summen dafür haben die 100-Milliarden-Grenze längst überschritten.
Die Verantwortung für Krieg oder Frieden – so zeigt es das Tanzwerk – liegt ausschließlich bei den Menschen, bei den „Schwarzen Herren“, die unbehelligt den Krieg überleben, beim „Schieber“, dem einzigen, der am Krieg verdient, und im geringen Maße bei den „Soldaten“, die unwissend und nichtsahnend in den Krieg ziehen. Aber auch bei allen anderen Ungenannten, die, obwohl wissend und ahnungsvoll, nicht genug unternehmen, um dem Treiben der Kriegsmächtigen und Kriegstüchtigen ein Ende zu machen.
Die Tat der Partisanin, einen Soldaten zu töten, ist Utopie und ebenso die Plakat- Losung vom Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989: „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.“
Vielleicht kann „Der Grüne Tisch“ der einen oder der anderen und dem einen oder dem anderen die Augen weiter öffnen und sie und ihn ermutigen, nicht nur Mut zu haben, sondern auch Mut zu zeigen.
Schlagwörter: Ballett, Fritz Alexander Cohen, Kurt Jooss, Peter Jarchow, Tanz