Vor gut 40 Jahren begann sich in England und den USA musikalisch etwas zu regen. Musiker mit Hang zum Krach wollten nicht mehr die von der Industrie vorgegebene Musik hören und spielen. Dre gelackte Mist ging ihnen auf den Keks und sie begannen auszuprobieren. Das Entscheidende war aber, dass die Jugend keinen Bock auf gar nichts mehr hatte, keine Zukunft sah, einfach den täglichen Trott ignorierte und gegen spießige Eltern und Politiker aller Art rebellierte. Warum Anzug tragen und in die Bank latschen, wenn es ein zerrissenes Hemd auch tut und man sich mit Gleichgesinnten in abgefuckten Häusern treffen kann. Jugendliche ohne musikalische Vorbildung griffen zu Instrumenten und begannen ihre Wut, ihren Hass und ihre Ablehnung mit Gitarren und Schlagzeug zu verarbeiten, sie verprügeln diese regelrecht und tanzen dazu wild, ganz ohne feste Schrittfolge (Sic!). So nahm die subversive Jugendkultur ihren Anfang und bekam die Bezeichnung Punk.
Alles aus dieser Richtung entwickelte sich immer weiter und in den Neunzigerjahren kam es zu einem regelrechten Pop-Punk-Hype der Generation Millennials, der sich aus Abrisshäusern entfernte und auch die Straße verließ. In vielen Radiostationen wurden Blink 182, Avril Lavigne und Green Day auf Dauerschleife gesetzt und man wusste nicht genau, ob das nun noch Punk war. Doch viele Teens mit alternativen Ideen identifizierten sich damit und sorgten dafür, dass Punk sich zu einem festen Bestandteil der Popkultur mauserte. Nun wurde es schwerer zu provozieren und mit ungewöhnlichen Aktionen an die Zeit vor VIVA und MTV, die den Punk ins TV brachten, zu erinnern. Zerrissene Klamotten und bunte Haare waren nun chic, Bands wie Die Ärzte und die Toten Hosen zählten immer noch zum Punk, obwohl sie damit nun jede Menge Kohle verdienten. Besserwisser riefen zwar, dass der Punk tot sei, doch dem war nicht so. Es hatten sich nur die Rahmenbedingungen geändert.
Die Filmschaffenden Nico Hamm, Florian Wildemann, Diana Ringelsiep und Felix Bundschuh wollten gerade dieses fast vergessene Kapitel beleuchten und begaben sich auf eine Zeitreise durch die letzten zweieinhalb Jahrzehnte deutscher Punkrock-Geschichte. Sie holten 69 Akteure vor die Kamera und befragten sie zur Zeit, die bis heute anhält und neben Deutschpunk auch den sogenannten Zeckenrap zum Leben erweckte. Zu Wort gekommen sind Musiker von Akne Kid Joe, der Antilopen Gang, den Toten Hosen und den Donots bis hin zu Massendeffekt, NOFX, Terrorgruppe, WIZO und ZSK. Entstanden „ist das Porträt einer Generation von Punks, denen von Anfang an gesagt wurde, dass sie zu spät dran und nicht authentisch genug seien“, erzählt Produzent Nico Hamm, der sich während des Corona-Lockdown intensiv mit „Millenial Punk“ beschäftigte und ein Team zusammenstellte.
Das Ergebnis ist eine vierteilige Dokumentation, die mit der Nostalgie der NullerjahreTitel: Throwback. In jener Zeit war die Digitalisierung noch nicht so weit, man entwickelt den Zeitgeist der frühen 2000er Jahre und heute gestandene Künstler lernten den Punk intensiv kennen: Akne Kid Joe, The Toten Crackhuren im Kofferraum und Erection traten in die Öffentlichkeit. Einige Musiker wurden sogar von den Eltern an den Punk herangeführt, denn Die Toten Hosen, WIZO und auch Terrorgruppe waren ja schon länger unterwegs. Punkbands präsentierten ihre Videos in speziellen Shows der TV-Musiksender und riefen ihre Meinung in schrillen Talkshows in die Mikrophone. Außerdem geht es im ersten Doku-Teil sehr rückbesinnlich zu, denn alte Werbungen und TV-Ausschnitte kommen zum Einsatz und man erörtert die Frage, wie Millennials zwischen Komasaufen, Tamagotchis und Skateboardfahren den Punk entdeckten und ihm bis heute treu bleiben.
Dass Punk eng mit der Politik verbunden ist, weiß man seit die Sex Pistols in England mit ihren Aktionen die ganze aristokratische Mischpoge angriffen. In Teil zwei der Doku wird unter der Überschrift „Aktivismus – Die politische DNA und der Punk“ die klare politische Haltung dargestellt und geklärt, warum es in dieser Sparte kaum schwarze Musiker gibt, obwohl Antirassismus zur DNA der Szene gehört. Mit zum Beispiel den Broilers gibt es auf die Frage eine klare Antwort, warum Hip Hop für Jugendliche mit Migrationshintergrund attraktiver als Punkrock ist. – Zu Wort kommen ebenfalls die verdammt mutigen Birgit und Horst Lohmeyer, deren Scheune 2015 von Nazis abgefackelt wurde und die trotzdem Jahr für Jahr ein antifaschistisches Festival veranstalten, in einem von Faschisten bewohnten Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. Regelmäßig spielen im Sommer dort Punkbands ganz ohne Bezahlung, von den Toten Hosen bis zu Feine Sahne Fischfilet. Schließlich erklärt der ZSK-Sänger Joshi, warum er die Jugendinitiative „Kein Bock auf Nazis“ gründete und was man damit erreichen will. Hier wird deutlich, dass die Kompromisslosigkeit im Kampf gegen Rechts die Punks verschiedener Richtung eint. Diana Ringelsiep bringt es dabei auf den Punkt: „Egal ob Millennials, Generation X oder Boomer – der kleinste gemeinsame Nenner von Punk ist der Antifaschismus“. Schon allein deshalb sei „Punk auch im Jahr 2024 noch relevant, denn in beunruhigenden Zeiten wie diesen braucht es Menschen, die Haltung zeigen“.
Seit einigen Jahren muss sich Punk nun auch bei Facebook, Instagram, Tik Tok oder ICQ durchsetzen, um am Leben zu bleiben. Man kann damit auch immer mehr junge Menschen erreichen. Deshalb konzentriert sich die Folge drei („Neuland“) auf die digitale Revolution. In den Interviews kommt klar zum Ausdruck, dass die Sozialen Medien Gleichgesinnte unabhängig vom Wohnort zusammenbringt und den Bands ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Herausgeber wichtiger Punk-Magazine kommen zu Wort. Sie erläutern ihre Arbeitsweise, die sich durch die Printkrise verändert hat. Interessant ist dabei, wenn WIZO-Sänger Axel erzählt, warum seine Band von illegalen Downloads profitiert hat. Schrottgrenze-Sängerin Saskia Lavaux kommt auf die Schattenseiten von Social Media und den Hass im Netz zu sprechen.
Wer die ersten drei Folgen gesehen hat, ganz bequem über die ARD-Mediathek, darf unter keinen Umständen den letzten Teil auslassen. Hier kommt man auf neue Genres und den Feminismus zu sprechen. Der TV-Zuschauer merkt, dass in der heutigen Zeit Hip Hop und Punk gut zusammen passen, da Rap-Acts wie die Antilopen Gang und SWISS & die Anderen plötzlich auf Punk-Festivals spielen und es ist nichts dabei. Zu Wort kommt die Rapperin FINNA, die über ihre Punksozialisation spricht. Mit dem Autor Philipp Meinert wird über seine „Homo Punk History“ gesprochen und mit Fat Mike, der als Sänger der legendären US-Punkband NOFX bekannt ist, erhält die queere Seite der Subkultur eine Stimme. Leider ist in dieser Richtung nicht alles ohne Fehl und Tadel, denn Musiker verschiedener Punkbands berichten von sexistischen Strukturen innerhalb der Punkszene.
Insgesamt schufen die Produzenten um Felix Bundschuh, der gemeinsam mit Diana Ringelsiep für Buch und Regie verantwortlich ist, eine wichtige Dokumentation. Das Thema Punk von heute wird intensiv ausgeleuchtet. Bundschuh und Ringelsiep versuchten dabei, den Generationskonflikt nicht weiter zu verschärfen, obwohl es in den subkulturellen Räumen Leute gibt, die laut „Früher war alles besser“ rufen und nicht bereit sind, ihre Privilegien zu reflektieren.
Die Doku „Millennial Punk“, die sich schnell als eine emotionale Achterbahnfahrt entpuppt, ist nicht nur für Punks ansehenswert, sondern auch für Menschen, die in den Neunzigern groß- und in den frühen Zweitausendern erwachsen geworden sind. Es ist eine Dokumentation der heutigen Generation, die Missstände nicht hinnehmen, sondern dagegen vorgehen, die Paroli bieten.
„Millennial Punk“ (Folge 1: Throwback; Folge 2: Aktivismus; Folge 3: Neuland; Folge 4: Fortschritt), Buch und Regie: Diana Ringelsiep, Felix Bundschuh; seit 28.05.2024 in der ARD-Mediathek.
Schlagwörter: Punk, Thomas Behlert