Vielleicht waren es der 2023 bevorstehende 120. Geburts- und 60. Todestag von Slatan Dudow, der den Filmhistoriker Ralf Schenk bewog, über den zu Unrecht Vergessenen ein Buch zu schreiben. Sein viel zu früher Tod (siehe Blättchen 18/2022) verhinderte noch in der Anfangsphase die Fertigstellung des Projekts. Nun wird Schenk als Mitherausgeber des umfangreichen Bandes genannt, den René Pikarski und Nicky Rittmeyer als „Annäherung an einen politischen Regisseur“ vorgelegt haben. Trotz des Umfangs von fast 700 Seiten geht es hier – so die Herausgeber – nicht um Vollständigkeit, sondern um Anregungen zu weiterer Forschung. Unterstützt wurde das Buch durch die DEFA-Stiftung, der Ralf Schenk bis 2020 acht Jahre lang vorgestanden hatte. In ausführlichen Beiträgen, etwa von Detlef Kannapin, Peter Rabenalt und Günter Agde wird Slatan Dudows künstlerischer (auch privater) Weg betrachtet und analysiert.
Der gebürtige Bulgare Dudow kam 1922 nach Berlin, ursprünglich, um Architektur zu studieren. Er nahm jedoch Schauspielunterricht, studierte Theaterwissenschaft und hospitierte bei Größen wie Leopold Jessner, Jürgen Fehling, Fritz Lang und Erwin Piscator. Der gemeinsam mit Bertolt Brecht erarbeitete proletarische Spielfilm „Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?“ machte ihn 1932 berühmt – nicht zuletzt wegen er Verbotsgeschichte des Streifens.
Seinen nächsten Film, eine Satire, begann Dudow zwar in Berlin, konnte ihn aber unter Mühen erst 1934 im französischen Exil fertigstellen. In der Schweiz überlebte Dudow den Krieg und schrieb mehrere Stücke mit satirischem Einschlag. Nachdem er 1948 in den Osten Berlins zurückkehrt war, entwickelte er sich schnell zu einem der wichtigsten Regisseure der DEFA – zumeist mit Zeitstücken wie „Unser täglich Brot“ (1949), „Familie Benthin“ (1950), „Frauenschicksale“ (1952), aber auch wieder mit einer Satire, „Der Hauptmann von Köln“ (1956). Weil das Publikum gern mehr unterhalten werden wollte, drehte Dudow 1959 den fast französisch wirkenden Berlin-Film „Verwirrung der Liebe“, für den er aber auch gescholten wurde, weil auf die Thematik des Klassenkampfes verzichtet worden war. Karl-Eduard von Schnitzler monierte im Filmspiegel folglich, dass der Film genauso gut in Italien oder Westdeutschland hätte gedreht worden sein können. Schnitzlers Wunsch: „So bleibt nur die Hoffnung, daß uns Slatan Dudow in naher Zukunft einen Film schenken möge, statt eines Filmchens.“ Dudow selbst meinte mit der ihm eigenen Abgeklärtheit, er bekäme „das Gefühl, dass man den verhassten Zeigefinger doch irgendwie vermisst. Hat man sich so an ihn gewöhnt?“
Der Filmstudent Winfried Junge lobte in der FDJ-Zeitschrift Forum, dass der Film sich „dem neuen Leben in der DDR“ zugewandt habe. Junge, längst durch die „Golzow“-Filme weltbekannter Regisseur, gehört zu den vielen Zeitzeugen, die für den vorliegenden Band ihre Erinnerungen beigesteuert haben. Dabei sind auch Siegfried Hartmann, Christel Bodenstein, Annekathrin Bürger, Dieter Wolf und Margit Voss. Vieles wurde original für diesen Band verfasst, aber hier fehlt leider eine Quellenangabe.
Dem Band beigelegt ist eine DVD mit dem wohl unbekanntesten DEFA-Film Dudows. Während der Dreharbeiten zu „Christine“ verunglückte er im Herbst 1963 tödlich. Zwar kam der Film, der wahrscheinlich ein Beitrag zum 15. Jahrestag der DDR werden sollte, zum 25. Jahrestag 1974 endlich zur Uraufführung, aber in einer eher unbefriedigenden Rohschnittfassung. Vor kurzem ist mit dem erhaltenen Material eine durchaus diskutable Neufassung erstellt worden, die verrät, dass Dudow mit diesem Film eine wichtige gesellschaftliche Diskussion angestoßen hätte. Er griff sein altes, schon in „Kuhle Wampe“ angeschnittenes Thema der Emanzipation der Frau wieder auf, führte es, nun unter sozialistischen Bedingungen, weiter und nahm damit inhaltliche und formale Bemühungen späterer DEFA-Filme (besonders deutlich in Egon Günthers „Der Dritte“, 1972) vorweg. Er erzählt die Entwicklung einer Frau (Annette Woska, später unter dem Ehenamen Roth in einigen weiteren DEFA-Filmen) über die fünfziger Jahre hinweg – von der Landarbeiterin, die sich auf der Abendschule anfangs widerwillig weiterbildet, einen Mann sucht und immer wieder enttäuscht wird. Ihre vier Kinder gibt sie ins Heim, vielleicht zu leichtfertig, ehe sie an den Richtigen gerät. „Dudow machte, kühn war das, aus einer Frau, die anderswo asozial genannt worden wäre, eine Madonna, stellte sich eindeutig auf ihre Seite, bekannte sich damit leidenschaftlich zu einer widerspruchsvollen Entwicklung unserer Gesellschaft“, schrieb Jutta Voigt 1974 im Sonntag.
Man meint, im Film Dudows lakonische Komik zu entdecken. Zusammen mit vielen sozialistischen Sprüchen, die in der Häufung komisch wirken, und der seltsamen Madonnenhaftigkeit der Hauptfigur, mag Slatan Dudow eine versteckte Kritik an Parolen vorgeschwebt haben. Wollte er gesellschaftliche Forderungen, auch die nach Gleichberechtigung, satirisch ad absurdum führen? Man wird es nicht mehr erfahren, erlebt aber mit diesem alten Streifen und einer gediegenen Besetzung mit Günter Haack, Armin Mueller-Stahl, Günter Ott, Günter Schubert, Horst Schulze, Friedo Solter und Johanna Clas einen anregenden Diskurs durch die Gesellschaftsatmosphäre der DDR in den fünfziger und sechziger Jahren.
René Pikarski, Nicky Rittmeyer, Ralf Schenk (Hrsg.): … und wer wird die Welt verändern? Slatan Dudow. Annäherungen an einen politischen Regisseur, 108 teils farbige Abbildungen, 2 DVDs, Bertz + Fischer, Berlin 2024, 688 Seiten, 43,00 Euro.
Schlagwörter: F.-B. Habel, Slatan Dudow