27. Jahrgang | Nummer 12 | 3. Juni 2024

Schach und Sprache

von Frank Holzke

Das Motto des Weltschachbundes FIDE ist „Gens una sumus“ – „Wir sind eine Familie“, mit der Betonung auf „eine“. Für die Schacholympiade 2008 in Dresden fanden die Veranstalter einen anderen, ebenfalls sehr treffenden Spruch: „Wir spielen eine Sprache!“ Die internationale Schachfamilie spielt also nicht nur das Spiel, sondern begreift es auch als Sprache.

Für Außenstehende vielleicht nicht gleich einleuchtend, wird doch bei einer Turnierpartie gerade nicht gesprochen, sondern Ruhe und Schweigen angemahnt. Anders als manche glauben, sagen Schachspieler nicht einmal „Schach“, wenn sie den gegnerischen König bedrohen, und noch weniger „Gardez“, wenn es sich um die Dame handelt. Beim Turnier wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass jeder merkt, wenn sein König im Schach steht oder seine Dame angegriffen ist – sonst ist man eben kein Schachspieler und sollte gleich zu Hause bleiben. So ziemlich das einzige, was während der Partie gesprochen wird, ist ein etwaiges Remisangebot und die Reaktion darauf („Na gut“ beziehungsweise „Ich möchte doch noch ein paar Züge machen“ oder ähnliche Auskünfte).

Schach als Sprache ist daher noch etwas anderes: Der Spieler hört auf seine Figuren, die zu ihm sprechen. Hier ist es der König, der in Sicherheit gebracht werden möchte, da die Dame, die auf eine Exkursion zu gehen gedenkt, dort ein Turm, dem der Sinn nach einer offenen Linie steht, ein Springer (kein echter Schachspieler sagt „Pferd“), der auf einen schönen Vorposten gebracht werden möchte, oder ein Läufer, der auf eine attraktivere Diagonale will. Nicht zuletzt aber die Bauern, „die Seele des Schachs“, die das Skelett der Stellung bilden und daher einer verständigen Behandlung bedürfen. Gar nicht zu reden von einem „Freibauern“, dem der Weg zur gegnerischen Grundreihe offensteht, wo er sich in eine Figur, bevorzugt die Dame, verwandeln kann. (Bis dahin ist der Bauer keine Figur, sondern eben ein Bauer – Oberbegriff für beides: Stein).

Natürlich reden die Figuren und Bauern, also die Steine, nicht wirklich, sie sind ja tote Materie, zumeist aus Holz oder Plastik. Nur der Spieler „hört“ sie „reden“, für ihn sind sie lebendige Wesen mit Gefühlen und Wünschen. Aber letztlich ist es die Stellung auf dem Brett, die zu ihm spricht und die ihm Auskünfte darüber erteilt, wie es in der Partie weitergehen soll. „Talk to the board and it will talk to you“, wie es der kürzlich verstorbene amerikanische Schachpädagoge Jeremy Silman in seinem großen Lehrbuch „How to Reassess Your Chess“ formulierte. Oder, wie ein Kapitel in meinem eigenen Buch heißt: „Befrage die Stellung“. Denn nur wenn man die Stellung als Ganze richtig auffasst und also „versteht“, kann man auch die sehnlichen Wünsche der einzelnen Figuren (und Bauern) erfahren.

Eine weitere stille Kommunikation bei einer Schachpartie ist die mit dem Gegner. Denn er will ja mit seinen Zügen ebenfalls dem Sieg näherkommen und gleichzeitig unsere Pläne durchkreuzen. Jeder Zug ist so ein Argument in einer „Verhandlung“ zwischen den beiden Spielern, die beide möglichst viel von dem einen zu verteilenden Punkt abbekommen wollen (einen Punkt für den Sieg oder wenigstens einen halben Punkt für ein Remis). Man muss ständig die Argumente des Gegners in Betracht ziehen und sich regelmäßig auch überlegen, welche Antwort er sich auf einen naheliegenden eigenen Zug zurechtgelegt haben mag. Bei den meisten Zügen ist für einen erfahrenen Spieler klar, was der Gegner damit bezweckt. Mitunter stutzt er aber auch, weil er es nicht gleich erkennt, und fragt sich dann etwa: „Was will dieser Zug mir sagen?“ So spricht der Gegner durch seine Züge mit ihm.

Die Geschehnisse auf dem Schachbrett sind seit gut 500 Jahren, als die Figuren ihre heutigen Zugweisen erhielten, im Wesentlichen unverändert, wenn sich auch das Wissen um die diversen Möglichkeiten (besonders zu Beginn der Partie, in der „Eröffnung“) immer mehr erweitert und verfeinert hat. Das Ergebnis des Ganzen, also die Partie, wird wiederum in einer standardisierten Notation festgehalten, die sich von Land zu Land und also von Sprache zu Sprache im Wesentlichen nur durch die Anfangsbuchstaben der Figuren unterscheidet. „Sf3“ für den Zug „Springer nach f3“ etwa wäre für einen Engländer „Nf3“ („N“ für „Knight“, da das „K“ schon für den „King“ vergeben ist).

Neben der Notation hat sich noch eine Sprache gebildet, die Fachsprache oder eben „Schachsprache“. Einige der Fachausdrücke haben sogar in den allgemeinen Sprachgebrauch Eingang gefunden. Zum Verdruss der Schachspieler werden sie dort aber ganz „falsch“, nämlich in einem anderen Sinn als beim Schach, verwendet.

Beispielsweise: Patt ist beim Schach eine Schlussstellung, in der die Partie also zu Ende ist und mit Remis gewertet wird. Die Stellung ist dadurch gekennzeichnet, dass der am Zuge befindliche Spieler einerseits keinen regelkonformen Zug mehr hat, also am Weiterspielen gehindert ist, sein König aber andererseits auch nicht mattgesetzt wurde. Im wirklichen Leben gibt es nichts Vergleichbares, und wenn Journalisten etwa von einem „atomaren Patt“ sprechen, so handelt es sich eben nicht um das Ende des Spiels (das dann das „Ende der Geschichte“ wäre), sondern um eine Lage, in der keine der beiden Seiten Fortschritte erzielen kann. So etwas gibt es beim Schach auch, es heißt dort aber ganz anders, nämlich „dynamisches Gleichgewicht“.

Als Bauernopfer bezeichnen es Journalisten gerne, wenn ein niederrangiger Funktionär seinen „Hut nehmen muss“, um einem seiner Vorgesetzten „die Haut zu retten“. Das wäre beim Schach die Situation, in der ein Spieler einen Bauern hergibt, damit sein König nicht mattgesetzt werden kann. Eine solche erzwungene Hergabe von Material ist aber in der Schachterminologie kein „Opfer“. Opfer werden freiwillig und meist offensiv gebracht. Ein Bauernopfer, in der Eröffnung Gambit genannt, soll also idealtypisch nicht das eigene Verderben abwenden, sondern das gegnerische herbeiführen.

Schließlich der Zugzwang, der ebenso wie das Patt im wirklichen Leben nicht vorkommt. Das Wort wurde in alle gängige Schachsprachen übernommen: Briten reden von „Suhgswäng“, Russen vom „Tsugtsvang“ (цугцванг) und Franzosen vom „Sügswang“, schreiben das Wort aber durchaus wie im Deutschen. Man bezeichnet so eine Situation beim Schach, in der es einer Seite zum Nachteil gereicht, dass sie einen Zug machen (also der Zugpflicht gehorchen) muss. Sie würde lieber aussetzen und den Zug an den Gegner abgeben, aber das ist eben nicht zulässig. Im Zugzwang verschlechtert jeder regelkonforme Zug die Stellung und führt im typischen Fall zur Niederlage. Ganz anders im wirklichen Leben, wo die Option „gar nichts tun“ in jedem Fall zur Verfügung steht, nur nicht immer angebracht ist.

Dr. Frank Holzke ist Stellvertretender Regionalleiter im Verein Deutsche Sprache (VDS) in Köln und Internationaler Schachgroßmeister. Buchveröffentlichung: „Von der Stellung zum Zug“, Joachim Beyer Verlag 2023.