Im März 1876 erklang in Paris zum ersten Mal das biblische Oratorium „Le Deluge“ (Die Sintflut), gewidmet der Pariser Commune von 1871. Autoren waren zwei der berühmtesten Künstler Frankreichs – der Dichter Victor Hugo und der Musiker Camille Saint-Saens. Hugo hatte den Text 1871 unter dem Eindruck der brutalen Niederschlagung der Commune geschrieben: einen Dialog zwischen der „alten Welt“ und der „Flut“, der mit den prophetischen Worten endet: „Tu me crois la marée et je suis le déluge.“ (Du hältst mich für der Gezeiten Strom: Doch ich bin die Sintflut!) Das war die Ankündigung des kriegerischen 20. Jahrhunderts, das nicht, wie Eric Hobsbawm meinte, ein kurzes, sondern ein sehr langes gewesen und bis heute nicht beendet ist. Auf die Commune folgten zwei Weltkriege, europäische Revolutionen, die allmächtige Monarchien stürzten, und die antikolonialen Befreiungskriege, die das Antlitz des Planeten veränderten. Allerdings brachten sie statt der erhofften Demokratien oft ein neues System von Diktaturen.
Die Tage der Commune – wie Brecht sein Historienspiel nannte – waren der Beginn der Moderne in den Künsten. Paul Verlaine und Arthur Rimbaud, während des Aufstands auch in die Dienste der Commune getreten, beklagten ihren Untergang in symbolistischen Gedichten. Rimbauds „Trunkenes Schiff“ ist eines dieser Gedichte. Karl Marx schrieb seinen historischen Essay „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“, Prosper Lissagaray seinen Augenzeugenbericht „Histoire de la Commune“. Auch in den Romanen von Jules Vallès und Èmile Zola stand sie wieder auf. Doch das berühmteste Zeugnis stammt von dem proletarischen Dichter Eugène Pottier. Als einer der letzten hatte er 1848 seine Barrikade verlassen und in einer Dachkammer, jeden Augenblick in Todesgefahr, dichtete er die Hymne der Commune: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt!“
Als „Internationale” ist das Lied in der Welt bekannt. Es wurde der heilige Gesang der Arbeiterbewegung. Als Marx seine Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich” verfasste, kannte er das Gedicht nicht, und Pottier wusste nichts vom „Kommunistischen Manifest”. Aber beides ist von einem Geist getragen. Seit langem steht es in den Liederbüchern proletarischer Parteien. „Wir waren nichts, jetzt sind wir da“, heißt es in der Übertragung Erich Weinerts.
Eugène Pottier wurde 1816 als Sohn eines Arbeiters, eines Packers, geboren. Er selbst arbeitete als Musterzeichner, stand 1848 zum ersten Mal hinter einer Barrikade und entging mit knapper Not dem Tod. Gleich begabt als Satiriker wie als Tribun, war er 1871 einer der ersten, die zur Bildung der „Commune” aufriefen. Sein Name steht unter der Botschaft der französischen Sektion der Internationale, die die deutschen Arbeiter aufrief, Bismarck und Napoleon III. gemeinsam in den Arm zu fallen.
Pottier war im März 1871 zum Mitglied der Commune (des Stadtrats von Paris) gewählt worden und harrte bis zum bitteren Ende aus. Nachdem sich das Gerücht von seinem Tod nicht bewahrheitet hatte, verurteilte ihn nachträglich ein Versailler Gericht dazu. Er floh nach England und Amerika und kehrte erst 1880 nach Frankreich zurück, arm, krank, aber noch immer voller Elan. Er hinterließ ungefähr 200 Gedichte. Jules Vallès nannte ihn den „Juvenal der Vorstädte”. Sein Hauptthema blieb die Commune, auf deren Wiederkehr und Erneuerung er hoffte.
Ein Bändchen seiner Gedichte kam im Juni 1888 in die Hände des Arbeiters Pierre Degeyter im nordfranzösischen Lille, eines musikalisch ungewöhnlich talentierten Menschen. In jungen Jahren hatte er Musik studiert und Kompositionspreise gewonnen. Aber sein Geld reichte nie auch nur für ein Klavier. In der Fabrik leitete er einen Arbeiterchor. Pottiers Gedichte begeisterten ihn. Er las sie in einem Zug, und in der Nacht zum 18. Juni 1888 komponierte er das Gedicht, das Pottier dem Kommunarden Gustave Lefrancais gewidmet hatte. Am folgenden Tag, einem Montag, ging er nach Schichtschluss wie gewöhnlich in die Arbeiterkneipe „Liberté”, um sein Lied vorzutragen. Die Zuhörer waren begeistert und stimmten ein. „Reinen Tisch macht mit dem Bedränger, Heer der Sklaven, wache auf”, klang es durch die Räume. Am Sonnabend darauf sang sein Chor das neue Lied auf einer Feier der Zeitungsverkäufer von Lille:
„Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger,
Alles zu werden, strömt zuhauf!
Völker, hört die Signale …”
Die örtliche Parteileitung der Französischen Sozialistischen Arbeiterpartei brachte das Lied als Flugblatt heraus. Es wurde auch gedruckt, 6000 Exemplare.
Dann kam der Tag, an dem das Lied mit einem Schlag in ganz Europa bekannt wurde, der 23. Juli 1896. In Lille tagte ein Parteitag der französischen Sozialisten. Die Delegierten der II. Internationale aus der Schweiz, Österreich, Deutschland und Rumänien versammelten sich, um zum Kongress nach London weiterzureisen. Auf dem Bahnhof begrüßten die Arbeiter von Lille sie feierlich mit ihrer Kapelle. Bürgerliche Nationalisten, Studenten und Katholiken, hatten eine Gegendemonstration organisiert und als die Delegierten eintrafen, stimmten sie Protestgeschrei an. Ein Augenzeuge, ein gewisser Dr. Zevaes, schilderte, was geschah.
„Am 23. Juli 1896 um 9 Uhr abends begeben sich die ausländischen Gäste mit dem Arbeitertrompeterchor an der Spitze, von 20.000 Kundgebungsteilnehmern begleitet, an den Tagungsort des Kongresses. Kaum hat der Umzug den Bahnhofsplatz verlassen, tauchen bei der Faidherbe-Straße Nationalisten auf, Studenten der Katholischen Fakultät und andere Elemente, die man mobilisiert hatte, und versuchen eine Gegendemonstration […] Als die Klerikalen und Nationalisten aus voller Brust die ‚Marseillaise’ anzustimmen beginnen, intoniert der Trompetenchor die ‚Internationale’, die Liller Arbeiter fallen ein und singen mit. […] Die jungen, vom Chauvinismus besessenen Leute schleppen sich mit Keulen, die sie kaum tragen können, und schreien aus voller Kehle: ‚Hoch Frankreich, nieder mit Preußen! ’ Auf ihr Geschrei antworten die Unseren – und es sind ihrer wahrlich auch nicht wenig – immer wieder mit dem donnernden Gesang der ‚Internationale’. Ein großes Gedränge und Gepuffe. Doch bald geht die ‚Marseillaise’ in der Flut der ‚Internationale’ unter… Wir haben gesiegt. Seit jenem Tag ist die ‚Internationale’ in ganz Frankreich verbreitet.”
Als im Dezember 1899 der I. Allgemeine Kongress aller sozialistischen Organisationen Frankreichs stattfand, stimmten die Abgeordneten aus Lille zum Abschluss wiederum die „Internationale“ an, und der ganze Kongress sang mit. Von Frankreich aus ging das Lied um die Welt. 1907 tauchte es erstmals in deutschen Arbeiter-Liederbüchern auf, die deshalb von der Polizei konfisziert wurden, und 1913 schrieb die illegale (in Leipzig gedruckte) „Prawda”: „In welches Land der klassenbewußte Arbeiter kommt, wohin ihn immer das Schicksal verschlägt – obwohl er die Sprache des Landes nicht kennt, fern der Heimat ist und ohne Bekannte – nach der vertrauten Melodie der Internationale findet er Freunde und Genossen.”
Das Lied begleitete Arbeiterdemonstrationen auf allen Kontinenten, die russischen Revolutionen von 1905 und 1917, Massenstreiks und Antikriegsdemonstrationen, die deutsche November-Revolution und den spanischen Bürgerkrieg. Nicht Johann Strauß, Paul Lincke oder Franz Léhar können mit dem Arbeiter Pierre Degeyter konkurrieren. Degeyter aber blieb der unbekannte Gießerei-Arbeiter. Der eigene Bruder sogar maßte sich die Autorschaft an seinem Liede an, und 15 Jahre prozessierte Pierre gegen ihn, ehe seine Urheberschaft 1921 anerkannt wurde. Er wohnte inzwischen als Rentner in der Rue des Alouettes in Saint-Denis bei Paris, wurde eines der ersten Mitglieder der Kommunistischen Partei Frankreichs. Aber auch dort erwähnte er nie, dass er der Komponist der „Internationale“ ist. Als der erste sowjetische Botschafter in Paris eintraf und zu seinen Ehren die Internationale intoniert wurde – zum ersten Mal seit Kriegszeiten, als sie verboten war –, ging der 77-jährige Degeyter als Laternenanzünder durch die Vorstädte. Als der französische Komponistenverband 1927 eine Werkliste forderte, gab er sich als Autor der „Internationale” an. Erstaunt registrierte man, dass das berühmteste Lied der Zeit einen Autor hatte. Auch nach Moskau wurde er nun eingeladen. Am 11. Jahrestag der Oktoberrevolution, am 7. November 1928, stand er auf der Ehrentribüne auf dem Roten Platz, neben ihm Männer in eisgrauen Bärten, die letzten überlebenden Kommunarden. Nicht weit entfernt stand der finster blickende Stalin, der das Lied verraten und als Staatshymne abschaffen wird, das die Sintflut der Revolutionen des 20. Jahrhunderts begleitete.
Schlagwörter: Eugène Pottier, Gerhard Müller, Internationale, Pariser Commune, Pierre Degeyter