27. Jahrgang | Nummer 10 | 6. Mai 2024

Der Ringelschuss

von Frank-Rainer Schurich

Schussversagen und Zielverfehlungen hat es in der Kriminalgeschichte schon unzählige Male gegeben. Da wirken die seltenen Fälle schon sonderbar, dass der Mörder zwar genau traf, aber seine grausame Tat dennoch im Dunkeln blieb. Denn bei Schrägschüssen in den Kopf kann es vorkommen, dass das Projektil an der Innenseite des Schädelknochens entlanggleitet und solange kreist, bis es ausgetrudelt ist. Deshalb sind keine Spuren eines Ausschusses vorhanden.

In der Gerichtsmedizin heißt dieses seltene Phänomen „Ringelschuss“, das Kommissare und sogar Rechtsmediziner auf eine falsche Spur schicken kann und dessen tragische Verstrickungen schon fast skurrile Züge tragen. Wie die beiden folgenden wahren Verbrechen zeigen.

Fall Nummer eins: Auf dem Schäkel-Hof in Petershagen-Frille bei Minden leben der alte Bauer Fritz Möller und sein ältester Sohn aus erster Ehe, Karl-Friedrich, seit langer Zeit in Unfrieden, womit sich auch das Hamburger Abendblatt vom 28. September 1989 beschäftigte: „Sohn Karl-Friedrich erbte von seiner Mutter Hilde, die sich 1958 im Stall aufhängte, einen achtzig Morgen großen Hof, den sie mit in die Ehe gebracht hatte. Das Kind wuchs auf dem Anwesen seines Vaters, dem Schäkel-Hof, auf. Fritz Möller heiratete zum zweiten Mal, bekam noch drei Kinder. Und er machte Schulden. Er belastete den eigenen Hof und den seines Sohnes mit Hypotheken. Eines Nachts, 1978, brannte dann noch der Erbhof ab. Zwei Mieter starben in den Flammen. Erst dann begann sich Karl-Friedrich, mit seinem Besitz zu beschäftigen. Bald merkt er, dass nicht mehr viel davon übrig war.“

Der Sohn will sich diese Misswirtschaft nicht länger ansehen, und er schreitet zur Tat. Er kauft 1983 den Hof des Vaters und gewährt diesem ein zehnjähriges Nießbrauchsrecht. Der aber heuert einen Killer an, der den verhassten Karl-Friedrich umlegen soll. Fritz Möller sucht und findet seinen Dienstleister: Siegfried St., Vater von vier Kindern, einst Schlachter, dann Bergmann in einem Kaliwerk. Siegfried hat Schulden, und da kommt ihm dieser Job gerade recht.

Der Auftraggeber zeigt noch ein Bild des Sohnes, aber der weiß Bescheid: „Keine Angst, ich kenne den Dicken.“ Dann legt er sich am 25. November 1985 gegen 19:00 Uhr hinter einer Stalltür mit einem abgesägten Kleinkalibergewehr auf die Lauer. Eine Gestalt kommt in der Dunkelheit, er lässt sie bis auf 30 Zentimeter herankommen und drückt ab. Der aus unmittelbarer Nähe Getroffene geht zu Boden.

Nun schaltet der Mörder das Licht an und zeigt Fritz Möller, dass er den Auftrag zu dessen Zufriedenheit erledigt hat. Doch Fritz Möller erstarrt. Der Erschossene ist der 23-jährige Nachbar Bernd Scheurenburg, der so alt ist wie Karl-Friedrich und auch dessen Statur besitzt.

Und nun wird es noch schlimmer. Der herbeigerufene Arzt stellt einen Totenschein aus, auf dem als Todesursache „Unfall“ steht. Scheurenburg sei gestürzt und dabei ums Leben gekommen. Den Einschuss am Augenwinkel sieht er, aus welchem Grund auch immer, nicht.

So wird Tage später der „verunfallte“ Bernd Scheurenburg begraben. Tragisch, aber Unfälle passieren halt … Fritz Möller ist im Trauerzug und heuchelt sein unendliches Mitgefühl.

Doch der will Karl-Friedrich immer noch loswerden. Ungefähr zwei Jahre nach dem „Unfall“ will er seinen Sohn nach einer vorgetäuschten Notwehr im Stall totschlagen. Der jedoch kann fliehen und erstattet Anzeige bei der Polizei. Und er teilt den Beamten auch seine Vermutung mit, dass Scheurenburg gar nicht Opfer eines Unfalls wurde. Das tschilpten im Ort ja schon die Spatzen von den Dächern …

Die Münsteraner Gerichtsmedizin mit Professor Brinkmann (nicht aus der Schwarzwaldklinik) an der Spitze bekommt den Fall im wahrsten Sinne des Wortes auf den Tisch; die Leiche von Bernd Scheurenburg wird exhumiert. Im Schädel des Toten finden die Rechtsmediziner ein Kleinkaliberprojektil, das aus dem Schädel nicht ausgetreten war. Mord!

Der Bauer legt ein Geständnis ab und nennt auch den Namen des Killers, der am 6. Januar 1988 festgenommen wird. Er hatte ohne Frage einen Auftragsmord begangen, aber er war nicht beauftragt worden, den Nachbarn umzubringen.

Im Herbst 1988 müssen sich beide vor Gericht verantworten. Das Urteil eines Bielefelder Gerichts: lebenslange Freiheitsstrafe für den Killer und 13 Jahre Haft für den Bauern.

Es war der bekannte Publizist Peter Niggl, der anno 1996 dieses Verbrechen in seinem Buch „Killer aus dem Katalog“ aus der Dunkelheit des Nichtwissens ans Licht holte.

Fall Nummer zwei: Schüsse aus dem Hinterhalt töteten am 30. November 2007 in Antwerpen (Belgien) den 39 Jahre alten Autohändler Steve Huypens – Raubmord! Ein Schock für seine Familie. Aber viel Zeit zum Trauern blieb ihr nicht, denn Sohn Kevin, damals 18 Jahre alt, wurde am 15. Dezember 2007 als verdächtiger Vatermörder in Haft genommen. Seine Mutter verstand die Welt nicht mehr.

Die belgischen Behörden ermittelten und ermittelten, aber Kevin stritt energisch ab, seinen Vater getötet zu haben. Kommissar Zufall kam ihm zu Hilfe.

Der Kriminalist Gerd Hoppmann hatte im Mai 2008 in Krefeld einen Raubmord an dem türkischen Autohändler Askin Uludag, 29 Jahre alt, zu untersuchen. Die Duisburger Gerichtsmedizin erstattete ein eindeutiges Gutachten: Das Opfer sei erschlagen worden. Die Leiche wurde freigegeben und konnte in der Türkei bestattet werden.

Der Kommissar glaubte allerdings nicht, dass die Rechtsmediziner in Duisburg richtige Feststellungen getroffen hatten, denn am Tatort im Krefelder Stadtteil Oppum fand man eine Patronenhülse. Und nicht nur das: Im abgestellten und verlassenen Fluchtauto sicherten die Kriminalisten die dazu passende Waffe. Mit einigem diplomatischen Geschick ließ Hoppmann das Opfer in der Türkei exhumieren, und siehe da, die dortigen Gerichtsmediziner fanden im Kopf des Toten eine Kugel, die zur Patronenhülse am Tatort passte. Der Mörder hatte seinem Opfer die Pistole in den Mund gesteckt und abgedrückt.

Als Täter konnte der vierfache Familienvater und Bankräuber Fred W., 56 Jahre alt, ermittelt werden, der sich zwischenzeitlich auf Mallorca versteckt hatte. Seine Waffe war auch bei dem Raubmord an dem Autohändler Steve Huypens im Jahr zuvor verwendet worden, so dass Gerd Hoppmann den belgischen Beamten den wahren Mörder präsentieren konnte. Nicht nur die Duisburger Gerichtsmediziner hatten sich blamiert, auch die belgische Polizei.

Damit war die Unschuld des vermeintlichen Vatermörders Kevin Huypens bewiesen, dem in Belgien nach acht Monaten Untersuchungshaft der Prozess gemacht werden sollte. Er dankte den Krefelder Polizeibeamten um Kommissar Hoppmann von ganzem Herzen. Ohne deren Untersuchungsergebnisse wäre er wahrscheinlich wegen Mordes lebenslänglich im Gefängnis gelandet.

Am 18. August 2009 wurde Fred W. zu lebenslanger Haft verurteilt. 2017 wollte ihn ein Mitgefangener, der Dreifachmörder Yanqing T. aus Düsseldorf, beim Hofgang erstechen, weil Fred W. die Fluchtpläne des Chinesen verraten hatte. W. überlebte das Attentat schwer verletzt …