27. Jahrgang | Nummer 10 | 6. Mai 2024

Das Geradeaus des Entweder-oder

von Harald Kretzschmar

Die gerade Linie steht in deutschen Landen seit Menschengedenken hoch im Kurs. Horizont hatte plan zu sein und deutsche Eiche kerzengerade. Der Blick war stets geradeaus gerichtet. Was schief lag, war gerade zu rücken. „Schiefliegen“ als Jammerwort des Versagens. „Geradlinig“ galt für immer und ewig als Leitvokabel für das Muster eines vorbildlichen Charakters. Im nur noch gelegentlich von so etwas wie Künstlerhand auf musische Pfade gelenkten Bauwesen ist das von streng geraden Leitlinien bestimmte Raster-und-Quader-Denken maßgebend. Man braucht kein Lineal mehr und keinen Zirkel, um die Quadratur des Lebenskreises zu bewerkstelligen.

Wer verhindert eigentlich flächendeckend Anmut und Phantasie in der Architektur? Jeglicher musischer Überschwang, den Friedensreich Hundertwasser (falls den Wiener Phantasten noch jemand kennt) uns brachte, ist doch auf einige Luftnummern von Mies van der Rohe und Hans Scharoun reduziert. Vom Areal um den Alexanderplatz der 70er Jahre ganz zu schweigen.

Unser bester Freund, der Computer, schafft das. Ohne uns lange danach zu fragen baut er ohne unser nörgelndes Wenn und Aber in Windeseile Häuserfluchten en masse. Mit Fenstern wie Schießscharten. Abrisstrümmer von Einstigem als Rohmaterial. Darin finden wir uns als Menschen vor lauter Geradlinigkeit gar nicht mehr wieder. Es gibt Gegenden, da ist ein Höchststand der Begradigung zu verzeichnen. Alles ist ungeheuer schwer, und damit gewichtig. Stahl und Beton besiegen Glas und Holz und filigrane Substanzen. Ganze Flüsse und Berge sollen aufs Geradeaus getrimmt werden.

Da fragt man unwillkürlich: Woher kommt das bloß? Na klar – die neben dem Geld heiliggesprochene Technik schafft das erfindungsreich und mühelos. Algorithmen übernehmen das Kommando. Lebewesen haben zu parieren. Nun muss man ja zugeben: Mitunter geht es ganz schön turbulent zu. Ein einziges Drunter und Drüber verunsichert Werte, auf die man einst vertraute. Da ist es kein Wunder, wenn die Leute klare Anhaltspunkte suchen. Auf dem kürzesten Weg ist halt immer geradeaus. Wie sie dabei unbemerkt auf Linie gebracht werden, das spüren sie gar nicht. Und dass unvermerkt alle der gleichen Meinung zustreben. Und wenn nicht, dann greift ein Feindschema.

Das alles ist ein recht weites Feld. Solche Areale muss deutsches Wesen, an dem ja immer irgendetwas genesen muss, eingrenzen. Entgegen allen gegenteiligen Bekundungen ist das Grenzenlose immer suspekt. Wo fängt etwas an? Wo hört es auf? Das allein ist wichtig. Was vermeintlichem Recht und Gesetz entspricht, muss klar wie Kloßbrühe im Licht der reinen Erkenntnis schimmern. Überschaubar soll es sein. Vor allem berechenbar. Das nämlich ist eine Lieblingsvokabel der einer Linie gerecht Werdenden.

Bekanntlich wird diese Spezies als linientreu bezeichnet. Den „Linientreuen“ gab es offenbar ausschließlich zu Zeiten des etablierten Sozialismus. Bezeichnend übrigens nur in dieser männlichen Form überliefert. Dessen Aktive sind mit diesem quasi Schimpfwort a priori ins Abseits gestellt. Es ist ein Musterbeispiel aus dem Füllhorn der mit Häme gesättigten Sprache der Abfälligkeiten. Abfall wie der wöchentlich gefälligst zu entsorgende Müll sind somit auch menschliche Verhaltensweisen wie Treue zu etwas oder zu jemandem. Zu einer immer als suspekt angesehenen, weil erzwungenen „Parteilinie“ offenbar sowieso.

„Linienrichter“ wiederum können über die von ihnen beaufsichtigten Fußballfelder und angemahnten Kicker-Regeln hinaus keinerlei Geltung beanspruchen. Dafür sind als Kenner ausgewiesene Menschen gefragt, die uns sagen, wo es lang geht. Und bitte sehr nicht immer mit diesen ungewissen Zickzack-Kursen! Und bitte sehr verschonen Sie uns mit riskanten Wendemanövern! Und bitte sehr vermeiden Sie jeglichen Aufenthalt, falls ein Hindernis auftauchen sollte! Und bitte sehr – sagen Sie uns klar und deutlich, wen wir als unseren Feind anzusehen haben. Hier gibt es kein zulässiges Femininum. Es gibt nur „den“ Feind. Oder „das“ Feindliche, das an all unserem Ungemach Schuld hat.

Also: Immer gerade heraus? Wenn die Linie stets so klar ist, werden wir ihr dann auch gerecht? Es wäre doch gelacht, wenn es uns nicht gelänge, ihr zu folgen. Ja, wenn da nicht ein anderer Umstand dazwischenkäme. Das allgemeine übermächtige Bedürfnis, auf den verschlungenen Hauptbahnen und Nebenwegen der Marktwirtschaft krumme Touren zu bevorzugen. Um zum eigenen Vorteil zu kommen, sind da die Mittel äußerst vielgestaltig. Die Chancen, sich zu bereichern, liegen nun mal nicht schnurgeradeaus vor uns. Winkelzüge sind angebracht. Wie es grade kommt, gleitet Handeln immer wieder in Feilschen über. Wo Bedarf lockt, lauern die Risiken zuhauf. Da gilt es, Umwege einzuschlagen und überraschende Möglichkeiten wahrzunehmen.

Der Markt kennt keine Geradlinigkeit. Das Niederkonkurrieren von Kontrahierenden will mit Verrenkungen und Vorspiegelungen erreicht werden. Das Riesenkapitel Werbung öffnet sich überhaupt erst beim Verlassen des ebenen und geradlinig justierten Terrains. Ein Übermaß von Versprochenem und Zu-Erhoffendem macht die Umworbenen kirre fürs große Geschäft. Die hohe Politik der Begüterten flankiert von den niederen Bedürfnissen der zu kurz Kommenden. Wie wird daraus eine Demokratie, die den Namen verdient?

Kennzeichnend, also maßgebend sind Abnehmer und Verbraucher sowie vor allem die dazugehörigen tonangebenden -innen. Das Passiv regiert Abnehmer und Verbraucher plus -innen. Aktiv ist allein der Vorgang des Bezahlens. Selbst die Vorspiegelungen von Glück gelangen nur umwölkt, wellenförmig oder blitzartig über die Menschen. Die Liebe darf sich nur so gebärden. Und wie ist es mit der Geschichte all dieser Menschen und ihrer erlebten Gesellschaft? Auf den ersten Blick ein Chaos. Und nach kurzem Erinnern kommt etwas so Eindimensionales wie „gut“ oder „schlecht“ dabei heraus.

Die herrschende oder zumindest angestrebte Geradlinigkeit also ist der Rettungsanker in der Not der Verwirrung. Die simpelste Erklärung erscheint als das beste Allheilmittel gegen die immer wieder kolportierten Verschwörungstheorien. Wozu eine lange erst einmal zu übende Schreibschrift? Das primitive Notieren von Worten tut es doch auch. Warum alle Vorgänge so kompliziert erst kommentieren, wenn es doch ohne Worte viel schneller geht? Wer kennt sich heute noch mit diversen Denkvorgängen wie „Woher und wieso ist das gekommen“ aus? Bitte sehr: Was soll der Mensch tun, der nur aufs Geradeaus-Denken trainiert ist? Einmal um die Ecke gedacht – und schon hat er total die Orientierung verloren.

Ehe die Zeitgenossen und -innen das riskieren, bleiben sie lieber auf der vorgegebenen Linie. Ihr Identität genanntes Selbstbewusstsein dient der Selbstfindung. Preisfrage: Wer schafft das ohne Selbstgerechtigkeit und Selbstüberhebung? Vor wenigen Jahren hatten wir das noch. Ist uns das verloren gegangen?