Der gesunde Menschenverstand ist eigentlich
nur eine Anhäufung von Vorurteilen,
die man bis zum 18. Lebensjahr erworben hat.
Albert Einstein
Dieses Buch ist ein eindrucksvolles Plädoyer an jeden Menschen, stets eine kritische Distanz zum „Augenscheinlichen“ zu bewahren. Mit „Plausibel, logisch, falsch“ nimmt Peter Gritzmann seine Leser mit auf eine prüfende Reise weg von den „Holzwegen des gesunden Menschenverstandes“ hin zu rationaler Analyse. Er war bis 2020 Professor für Angewandte Geometrie und Diskrete Mathematik an der Technischen Universität München.
Offenbar hat er sich nun im Ruhestand dazu entschlossen, ein populärwissenschaftliches Buch für einen breiten Leserkreis zu verfassen. Um es vorwegzunehmen, auch die mathematischen Laien, also die große Mehrheit der anvisierten Leser, kommen auf ihre Kosten. Eine Bedingung scheint mir allerdings als Voraussetzung für eine fesselnde Lektüre vonnöten zu sein: Das Interesse an dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, und nicht an oberflächlichen Antworten in Form leichter Häppchen. Eine Spur von Vergnügen an logischem Denken sollte auch nicht schaden.
Gritzmann eröffnet sein Buch mit einem häufigen Denkfehler beim Umkehrschluss und zeigt an einem praktischen Beispiel aus dem Bereich der Schwangerschaftsuntersuchung, dass die Verlässlichkeit des „positiven Nachweises“ deutlich höher ist als die des „Nichtnachweises“: „Aus der Tatsache, dass im Ultraschallbild ein kleiner Penis zu sehen ist, kann man schließen, dass es sich um einen Jungen handelt. Die Umkehrung gilt allerdings nicht. Nur weil man keinen sieht, kann man nicht schließen, dass es sich um ein Mädchen handelt.“ Das wäre ein falscher Umkehrschluss.
Die folgenden Kapitel haben es wahrlich in sich. Hier geht es um mehr als die Prognose des Geschlechts von Föten. Gritzmann widmet sich aktuellen und ganz konkreten gesellschaftspolitischen Fragen in einer Demokratie. Wie wählen? Wie gestalten und verändern wir gegebenenfalls das Wahlsystem?
In einem (fiktiven) Beispiel zeigt der Autor anschaulich anhand von drei Wahlsystemen – Mehrheitswahl (Parlament Großbritannien, Senat USA), absolute Mehrheitswahl mit Stichwahl (Präsidentschaft in Frankreich) und Punkte-Wahl (zum Beispiel European Song Contest) – wie bei gleichem Stimmverhalten ohne Manipulation oder Wahlfälschung drei verschiedene Ergebnisse entstehen. „Der Wahlsieg hängt somit nicht nur vom demokratischen Willen ab, sondern ebenso vom verwendeten Wahlsystem.“ Allen Politikern und Wählern sei die Lektüre dieser Kapitel wärmstens empfohlen. Und jeder Wähler sollte hellhörig sein, wenn nach einer Wahl vom „klaren Wählerwillen“ gesprochen wird.
Gritzmann kommt zu dem Schluss: „Durch die Auswahl eines ‚geeigneten‘ Wahlsystems kann man einen extremen Einfluss auf das Wahlergebnis nehmen. Das ist viel subtiler als Wahlfälschungen, bisweilen aber durchaus genauso erfolgreich.“ Demokratie bleibt daher eine Herausforderung, auch beim Verhältniswahlrecht zum Bundestag in Deutschland und selbst bei der „Volksgesetzgebung“ (Bürgerbegehren, Bürgerentscheide). Im Ergebnis folgt Gritzmann Winston Churchill, welcher 1947 im Britischen Unterhaus sagte: „Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“
Über den Zinseszinseffekt, Bezugsgrößen bei Statistiken, Durchschnitte, die extreme Ungleichheiten verdecken, kommt der Autor in seinen anekdotisch erzählten Kapiteln bis hin zu Armutsberichten. Hier zeigt er am Unterschied von relativer und absoluter Armut, dass es immer darauf ankommt, worüber konkret von Interessenvertretern oder Journalisten gesprochen wird.
Mittels der sogenannten „One Dollar Auction“ belegt Gritzmann, wie psychologische Effekte das Handeln bestimmen und (fast) sicher in eine Falle führen. Ein drastisches Beispiel ist die Eskalation des Vietnam-Krieges 1965, wo es für Präsident Johnson nur noch darum ging, die Demütigung einer Niederlage der USA zu verhindern, was den Krieg um zehn weitere Jahre verlängerte.
Warum fällt irgendein Empfänger von Phishing-Mails auf irgendeinen dieser Versuche herein? Welche Wahrscheinlichkeiten führen zu kognitiven Verzerrungen? Welche überraschenden Auswirkungen hat eine Veränderung des Straßennetzes? Warum sagen Korrelationen rein gar nicht über Kausalitäten aus? Ein Beleg dafür, dass Babys durch Störche gebracht werden, lässt sich nicht aus dem Zusammentreffen zweier Ereignisse (Koinzidenz) ableiten. Das alles sind Fragen und Stichworte aus dem gut lesbaren Buch.
Bleiben wir stets kritisch, auch bei vermeintlichen Autoritäten und einfachen Formeln oder Modellen. Die Lektüre kann dabei helfen.
Noch ein Beispiel Gritzmanns dazu: Die populäre „Faustformel“, dass die Reduzierung der Raumtemperatur um ein Grad Celsius die Heizkosten um sechs Prozent senke, mag in kleinen Temperaturbereichen funktionieren, aber nicht in größeren. Berechnen Sie selbst eine Absenkung um 18 Grad! Werden Sie „Einkünfte“ generieren oder Schimmel und Unterkühlung hervorrufen?
Peter Gritzmann: Plausibel, logisch, falsch. Auf den Holzwegen des gesunden Menschenverstandes, C.H. Beck, München 2024, 217 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: gesunder Menschenverstand, Jürgen Hauschke, Korrelation, Logik, Peter Gritzmann, Statistik, Wahlsysteme