Wo der Mensch die Kraft- und Schönheitsfehler
Weggemensendieckt* aus der Figur,
Wird das Äußere immer paralleler
Mit der Schlankheit innerer Kultur
Aber, weil wir nicht nur Kraft benöt’gen
Und die Schönheit auch nach Ausdruck ringt,
Muß der Mensch sich anmutvoll betät’gen,
Wenigstens, soweit ihm das gelingt.
Deshalb sieht man ihn in Tanzbetrieben
Öffentlich als Schönheitstrunkenbold
Peristaltisch durch die Gegend schieben.
Wo die schlanke Linie wallt und rollt.
Tango, Onestep, Boston und Black Bottom
Rasseln epileptisch durch die Knie;
Dabei exponieren sie in flottem
Kurvenschlag die hintere Partie.
Wenn die Hüfte sich vor Wonne schüttelt
Und der rhythmisch ausgerenkte Fuß
Ausdruck inn’rer Leidenschaft vermittelt,
Schwingt der Nerv in Charleston oder Blues.
Wenn die Ellenbogen wild vibrieren
Und das Rückgrat sich in Krämpfen krümmt,
Ist kein inn’rer Halt mehr zu verlieren,
Weil die Seele mit der Form verschwimmt.
Saxophonisch läßt man sich durchrhythmen.
Zehenspitzenleistung? Na. und ob!
Doch nun laßt uns ganz den Nerven widmen!
Nächsten Winter tanzt man auf dem Kopp.
(1926)
Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaberin.
* – Als mensendiecken bezeichnet wurde seinerzeit die Ausübung einer speziellen Gymnastik, die besonders an den weiblichen Körper angepasst war. Der Begriff geht auf den Nachnamen der niederländisch-amerikanischen Ärztin Bess Mensendieck zurück, die laut Wikipedia „zu den wichtigsten Begründerinnen der frühen Atem- und Leibpädagogik in Europa und Amerika“ zählte.
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