Weltweit sehen 60.000 bis 100.000 Menschen gleichzeitig die Aufführungen live aus der Metropolitan Opera New York in Kinos von 50 Ländern. So sahen wir kürzlich auch Verdis Nabucco. Die Aufführung fiel zeitlich mit dem Krieg zwischen Israel und der Hamas zusammen, und zwar genau in der Phase, als die übermächtige israelische Armee als Vergeltung für das blutige Attentat am 7.Oktober 2023 die Hamas im Gazastreifen buchstäblich ausmerzte.
Die Inszenierung von Nabucco führt unweigerlich zur Gegenwart. Es ist, als würden sich die mehreren tausend Jahre der jüdischen Geschichte vor unseren Augen abspielen. Ganz so, als ob Nabucco auch das Unerklärliche erklärt, was heute im Gazastreifen passiert.
Das Libretto der Oper basiert auf der Bibel. Nabucco ist König Nebukadnezar II, der in der Nacherzählung der alttestamentarischen Geschichte Jerusalem 597 v. Chr. erobert. Im Verlauf der nicht ganz der biblischen folgenden Erzählung verliert Nabucco seinen Verstand, nachdem er vom Blitz getroffen wurde. Demnach bittet er den Gott der Juden um Vergebung, kommt wieder zur Besinnung und konvertiert zum jüdischen Glauben.
Die vielleicht denkwürdigste Episode der Oper ist das schmerzlich nostalgische Lied „Va pensiero“ der jüdischen Gefangenen im dritten Akt. In Deutsch etwa „Oh mein Heimatland, schön und verloren! Oh Erinnerung, teuer und unselig! […] Oh, möge dich der Herr zu einem Wohlklang inspirieren, der aus Leiden Mut einflößt!“. Bei Opernaufführungen ist es normalerweise nicht üblich, bestimmte Passagen zu wiederholen, aber dieses Lied wird auf Wunsch des Publikums beinahe immer wiederholt.
Als Historiker bin ich kein Musikexperte. Ich genieße sie einfach. Ich habe versucht zu verstehen, was das Geheimnis des großen Erfolgs des Gefangenenchors zum Zeitpunkt seiner ersten Aufführung war. In jenen Tagen erinnerte das Lied nämlich an die österreichische Besatzung in Italien. Dies machte den Gefangenenchor nach und nach zur Hymne der italienischen nationalen Einigungsbewegung. Und so spielte Nabucco im 19. Jahrhundert eine charakteristische Rolle in den politischen Bewegungen europaweit.
Geschichtlicher Hintergrund: Nabucco, das heißt Nebukadnezar II., babylonischer Herrscher (von 605 bis 562 v. Chr.), besiegte Ägypten, eroberte und zerstörte Jerusalem. Während 43 Jahren war er Herrscher in der Antike im Nahen Osten. Er verbannte die in Gefangenschaft geratenen Juden nach Babylon und hielt sie dort ein halbes Jahrhundert gefangen. Das Ende kam erst mit der militärischen Niederlage und Zerstörung Babylons im Jahr 539 v. Chr. Zu dieser Zeit kehrten die Juden nach Israel zurück.
In der Oper Nabucco passt das berühmte Lied des jüdischen Gefangenenchors in diesen historischen Kontext.
Der große Erfolg von Nabucco beflügelte Verdi. Im Laufe seiner langen Karriere schenkte er der Welt insgesamt 26 Opern, darunter die bis heute beliebtesten Meisterwerke wie Rigoletto, Aida, Don Carlos, Traviata, Macbeth, Die Macht des Schicksals, Otello und Falstaff.
Verdi hatte symbolisch auch eine politische Karriere, denn seine Werke wurden zu Verkündern der Freiheit und galten als Verkörperung der italienischen Einheitsbewegung (Risorgimento) zwischen 1815 und 1870. Der berühmte Slogan der Bewegung wurde durch seinen Namen geprägt: Viva V.E.R.D.I. (Viva Vittorio Emanuele Re d’Italia – Es lebe Victor Emanuel, König von Italien.). Der Komponist Giuseppe Verdi wurde sogar Mitglied des italienischen Parlaments.
Als er 1901 starb, schlossen in Italien Geschäfte und Züge blieben stehen. 28.000 Menschen standen Spalier entlang der Strecke des Trauerzuges. Bei seiner Beerdigung dirigierte Arturo Toscanini das berühmte Lied des Gefangenenchors von Nabucco mit einem riesigen, 820-köpfigen Chor, und 300.000 Menschen sangen mit ihnen „Va, pensiero, sull’ali dorate…“ (Flieg Gedanke auf goldenen Schwingen). Mehr als ein Jahrhundert nach Verdis Tod lebt er hier immer noch bei uns, seine Werke werden in allen Opernhäusern der Welt aufgeführt.
Was heute im Gazastreifen passiert, steht für die Geschichte von der babylonischen Gefangenschaft an über die Ausgrenzung im Mittelalter, den Holocaust bis hin zur Gründung des unabhängigen Staates Israel. Es liefert heute eine mögliche Erklärung, wenn auch keine Entlastung, für eine vielleicht überreagierende Vergeltung des blutigen Anschlages der Hamas vom 7. Oktober 2023.
Übersetzung aus dem Ungarischen von Gabor Szasz.
Prof. Iván T. Berend, geboren 1930, Historiker und Wirtschaftswissenschaftler, 1985 bis 1990 Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, 1990 bis 2015 Professor an der University of California (UCLA).
Schlagwörter: Gaza, Israel, Iván T. Berend, Nabucco, Verdi