27. Jahrgang | Nummer 9 | 22. April 2024

Ja, ich komme aus der DDR – und das ist auch gut so

von Maritta Adam-Tkalec

Es war und ist der West-Ost-Klassiker: ein erweitertes Familienwochenende, und ein angeheirateter Onkel aus dem tiefen Westen findet, es sei die Gelegenheit, der Ostfrau endlich mal ihr Leben zu erklären. Er war, vor Jahrzehnten, tatsächlich mal in der DDR gewesen, zu Besuch bei einem Cousin in Sachsen, und seither wusste er Bescheid über die Zone: stasi-durchtränkt bis ins Intimste („Die haben doch jedem ins Bett geguckt!“), Bildungsterror allenthalben („Was habt ihr denn gelernt, außer Kommunismus beten?!“), Frauenunterdrückung („Ihr MUSSTET ja arbeiten“), Kinderquälerei („Töpfchendrill in der Krippe!“) und so fort.

Viele begannen mit „Ihr habt/seid/ musstet“. Der Mann meinte es wirklich gut. Der kleine Einwand, ich sei bei meinem Leben jahrelang selbst dabei gewesen, konnte – wegen meiner „diktatursozialisiert“ gewiss erlittenen Gehirnwäschen – keine Geltung erlangen. Ich stellte das Argumentieren ein. Für solche Debatten ist das Leben zu kurz.

Meine Ost-Herkunft (Bitterfeld!) habe ich nie geleugnet, weder im Beruf noch privat. Es machte Spaß, dieses gewisse Staunen auszulösen, wenn dem Gegenüber klar wurde, eine „Überlebende“ vor sich zu haben: gerettet aus der Vorhölle – was man den Leuten so im Kalten Krieg (und danach) über das Leben auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs so erzählt hat. Das differenzierte Reden über den Osten hat Wessis eher genervt – so etwa wie „Oma erzählt von früher“. Neugier, Wissbegierde und Fragekaskaden kamen fast immer von Menschen aus oder in anderen Ländern.

Als vor etwa zehn Jahren der Club der Botschaftergattinnen in der Berliner Zeitung zu Gast war, fragten mich die Ladys nach einem kurzen Vortrag, in dem auch der Satz vorkam „Ich war trotz all der Probleme mit meinem Heimatland eine loyale DDR-Bürgerin“, Löcher in den Bauch. Das fanden sie ehrlich, und viele hatten noch nie gehört, dass man auch in der DDR hatte Lebensglück finden können.

Als ich 1996 im Tross eines Bonner CDU-Entwicklungshilfe-Staatssekretärs nach Peru reiste, zeigte man mich beim Abendempfang im Rathaus von Arequipa stolz vor, als eine hinzuvereinigte Ostdeutsche, die auch zur Reisegesellschaft gehöre. Der Bürgermeister war elektrisiert, drängte mich zu einer kleinen Rede. Ich hielt sie auf Spanisch. Ich war neben der Dolmetscherin die einzige anwesende Deutsche, die Spanisch beherrschte. Was für ein Spaß zu erzählen, wie ich in der DDR Lateinamerikanistik studiert und einen vorzüglichen peruanischen Spanischlehrer gehabt hatte. Ich gab ein wenig mit meinem Wissen über peruanische Geschichte an. Die Wessis staunten, die Gastgeber strahlten.

2011, im Jahr des arabischen Frühlings, hatte ich im Auftrag der Unesco in Kairo einen Vortrag vor einigen Hundert ägyptischen Journalisten zu halten. Es ging um „Transformationserfahrungen“. Da galt die Ossi als Expertin. Ich erzählte über dem Umbau der Zeitung, aber auch Persönliches. Zum Beispiel, wie im Verlauf der Wende (also der Transformation in der DDR) alte Freunde verlorengingen und neue gewonnen wurden.

Danach umringten mich vor allem die jungen Journalistinnen und sprachen über ihre Furcht, sich öffentlich anders zu äußern, als es ihr Familien- und Freundeskreis erwartete. Diese Furcht hemmt auch hierzulande vor allem junge Journalisten: Sie verkneifen sich Äußerungen, wenn sie glauben, dass diese nicht der Meinung ihrer sozialen Blase entspricht – die am weitesten verbreitete und fast nie diskutierte Form der Selbstzensur.

Nach einer aufwühlenden Stunde nahm mich Katharine Vyner zur Seite; die Chefredakteurin des Londoner Guardian hatte den Vortrag vor mir gehalten (über journalistische Unabhängigkeit und das Stiftungsmodell des Guardian) und hatte Dutzende Fragen– über die DDR, die Wende, die deutsche Einheit – und fuhr mich unter ständigem Fragen in mein kleines Altstadthotel.

Nach der Vereinigung erfuhren Ost-Journalisten einige Aufmerksamkeit: Es gab Institutionen, die ihnen – völlig zu Recht – freiheitliches Arbeiten beibringen wollten. So kam ich 1995 in einen vierwöchigen, von der Reuters-Foundation organisierten Journalisten-Trainingskurs, der im herrlichen Somerville College in Oxford stattfand. Ein gern diskutiertes Thema war die „Kommunismuserfahrung“ – zumal neben zwei Ostdeutschen etwa ein Dutzend afrikanische und osteuropäische Journalisten zu den Teilnehmern gehörten. Die britischen Lehrer fragten mit echter Neugier, „Wie habt Ihr das erlebt?“, und sie hörten wirklich zu. Die ugandischen Kollegen fühlten sich durch die Berichte aus dem deutschen Nachwende-Osten, als alle wichtigen Posten – Richter, Professoren, Direktoren – mit Westdeutschen besetzt waren, an die britische Kolonialzeit in Uganda erinnert.

Im heimischen Nahbereich, also in der Redaktion der Berliner Zeitung, sollte es in jenen Jahren besser nicht so „ostig“ zugehen. Die Aufgabe bestand ja nach Befinden der wechselnden Verleger und Chefredakteure eher darin, dem Ex-DDRler westliche Werte nahezubringen, sie durch Journalismus der Extraklasse auf Niveau zu bringen und – natürlich – die Berliner Zeitung den vielen potenziellen Abonnenten im Westen schmackhaft zu machen.

Ost-Themen hatten keine Konjunktur, waren aber möglich – sie wurden allerdings als außergewöhnlich wahrgenommen. Ein Beispiel: 2007 tobte in Deutschland ein Kulturkampf um die Frage: Macht Krippenbetreuung Kinder zu seelischen Krüppeln? Anlass war die langsam reifende Einsicht, dass auch Neu-Deutschland nicht um ein System frühkindlicher Betreuung herumkommen würde. Bis dahin hatte gegolten: Pech und Schwefel über die DDR-Krippe. Der DDR-Ausbildungsberuf der Krippenerzieherin war sofort abgeschafft worden. DDR-Bürger mit Krippenerfahrung wurden als deformierte Großgruppe diffamiert.

Am 6. März 2007 erschien ein Kommentar von mir, der daran erinnerte, dass sich die DDR-Krippenerziehung an den aufklärerischen Ideen von Fröbel und Pestalozzi orientiert hatte und auf die Förderung des kindlichen Spiels und der guten Mutter-Kind-Bindung orientierte, dass regelmäßig der Krippenarzt vorbeischaute, dass die Eltern bei Krankheit des Kindes bezahlt und ohne Zeitbegrenzung frei nehmen konnten. Die meist neu errichteten „Kinderkombis“ (Krippe und Kindergarten in einem Gebäude mit zwei Eingängen) waren kindgerecht eingerichtet, hatten einen Spielplatz und kein „Drillpersonal“, sondern gut qualifizierte Betreuerinnen.

Die Reaktionen waren enorm, und sie irritierten. Die Leute schrieben nämlich: „Endlich hat mal einer den Mut, die Wahrheit zu schreiben, und die Berliner Zeitung druckt das!“ Manche fürchteten, der Autorin würden fortan ihre Schreib- und Veröffentlichungsmöglichkeiten beschnitten werden. Manche fragten bei der Gelegenheit, wer den Journalisten eigentlich die Schreibregeln vorgebe und wo die Grenzen der Meinungsäußerung lägen.

Das war vor fast 20 Jahren. Das Problem, das Menschen im Osten mit der offenkundigen Diskrepanz zwischen medialer Darstellung ihres Lebens und ihrer eigenen Erfahrung haben, ist seither weiter gewachsen. Trotzdem stört das lebensnahe Schreiben über den Osten, das Ausleuchten von lange bewusst übersehenen Winkeln die Exekutoren der Ost-Delegitimierung noch immer – sobald es nicht brav auf Westlinie liegt oder dem Bürgerrechtlersound folgt.

Die Berliner Zeitung hält seit Jahren dagegen und verschafft Stimmen Gehör, die sonst keiner hören will. Katja Hoyer und ihre Kolumnen werden das Spektrum erweitern.

 

Berliner Zeitung, 03.04.2024. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.