Das nunmehr fast 75 Jahre alte Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist ein Dokument seiner Zeit. Es ist weder eine Gottesgabe vom Berg Sinai noch eine steinerne Gesetzesstele. Vielmehr widerspiegelt es das außen- und innenpolitische Kräfteverhältnis nach der totalen Niederlage des Deutschen Reichs im Zweiten Weltkrieg, der darauf folgenden militärischen Besatzung des Landes mit dem damit verbundenen Verlust der nationalen Souveränität, das Kräfteverhältnis zwischen den Hauptsiegermächten USA, UdSSR sowie dem Vereinigten Königreich und insbesondere unter den drei westlichen Besatzungsmächten und deren Interessen nahestehenden innenpolitischen Akteuren.
So wurde das Grundgesetz (GG) auf Geheiß der westlichen Besatzungsmächte erstellt: Auf der Londoner Außenminister-Konferenz (23.2. bis 2.6.1948), von der die Sowjetunion ausgeschlossen worden war, hatten sich die sechs westlichen Siegermächte (USA, England, Frankreich, Belgien, Niederlande, Luxemburg) darauf geeinigt, die drei westlichen Besatzungszonen quasi-staatlich zusammen-zuschließen, ein Besatzungsstatut zu erlassen und eine Währungsreform durchzuführen. Daraufhin forderten am 1. Juli 1948 die Militärgouverneure der westlichen Besatzungsmächte mit der Übergabe der „Frankfurter Dokumente“ die gewählten Ministerpräsidenten ihrer Länder auf, eine Versammlung einzuberufen. Diese sollte eine demokratische Verfassung mit Grundrechtsgarantie und bundesstaatlichem Aufbau erarbeiten.
Das Grundgesetz wurde auch nicht von einer gewählten verfassungsgebenden Versammlung wie etwa die Reichsverfassung vom März 1849 und die Weimarer Verfassung von 1919 erstellt und gebilligt: Zunächst wurde auf dem Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (10. bis 23.8.1948) ein Entwurf des Grundgesetzes hauptsächlich von den aus den elf Ländern der Westzonen entsandten Verwaltungsbeamten erarbeitet (für Baden Paul Zürcher, für Bayern Josef Schwalber, für Bremen Theodor Spitta, für Hamburg Wilhelm Drexelius, für Hessen Hermann Brill, für Niedersachsen Justus Danckwerts, für Nordrhein-Westfalen Theodor Kordt, für Rheinland-Pfalz Adolf Süsterhenn, für Schleswig-Holstein Fritz Baade, für Württemberg-Baden Josef Beyerle, für Württemberg-Hohenzollern Carlo Schmid).
Sodann wurden die Bestimmungen des Grundgesetzes von einem über die gewählten Landesparlamente indirekt, entsprechend der Stärke der Landtagsfraktionen zusammengesetzten „Parlamentarischen Rat“ (1.9.1948 bis 8.5.1949) ausformuliert. Dieser bestand aus 65 stimmberechtigten Mitgliedern der politischen Parteien: 27 der CDU/CSU, 27 der SPD, 5 der FDP/DVP, 2 der DP, 2 des Zentrum und 2 der KPD).
Auch die Verabschiedung und Annahme des Grundgesetzes erfolgte nicht durch eine Volksabstimmung sondern es wurde indirekt am 18./19. Mai 1949 angenommen mit folgendem Abstimmungsergebnis: Von 65 Mitgliedern stimmten 53 für seine Annahme und 12 für seine Ablehnung (CSU: 6, DP: 2, Zentrum: 2, KPD: 2). Die Gegenstimmen erfolgten aus unterschiedlichen Gründen; hauptsächlich wegen zu geringer föderaler Rechte im Grundgesetz (so die CSU) und der mit der Verabschiedung des Grundgesetzes verbundenen Gründung eines separaten westdeutschen Staates und der damit verbundenen Teilung Deutschlands (so die KPD).
Das am 8. Mai 1949 durch den Parlamentarischen Rat angenommene Grundgesetz bedurfte noch der Zustimmung der Militärgouverneure. Diese erfolgte am 12. Mai 1949; damit erlangte das Grundgesetz Gültigkeit und konnte in Kraft treten.
Das Grundgesetz besaß außer der Präambel, die wie Artikel 146 GG die Vorläufigkeit des „Verfassungs“-Dokuments betont, insgesamt 146 Artikel. Es beinhaltete keine Bestimmungen über eigene westdeutsche Streitkräfte, zentralisierte Polizei- und Ordnungskräfte, über eine eigenständige Außenpolitik sowie eine Außenwirtschaft. Und vorrangig zum Grundgesetz stand das Besatzungsstatut vom 21. September 1949, das die Souveränität des westdeutschen Staates vor allem bezüglich Entmilitarisierung, Dekartellisierung, Ruhrstatut, Außenwirtschafts- und Devisenpolitik einschränkte.
Das Grundgesetz wurde darüber hinaus ständig ergänzt und grundlegend verändert. Von 1949 bis 2022 gab es insgesamt 67 Grundgesetzänderungen beziehungsweise -aufhebungen. Grundlegende Änderungen erfolgten vor der meist „Wiedervereinigung“ genannten deutsch-deutschen Staatsvereinigung mit dem Ausführungsgesetz zu Artikel 131 vom 11. Mai 1951 und dem Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. August 1951 zu Artikel 21, der Aufstellung der Bundeswehr von 1956 (Artikel 87a), der Notstandsgesetzgebung von 1968 (Artikel 79, 1+2) und der Finanzreform von 1969.
Auch die „Wiedervereinigung“ Deutschlands erfolgte nicht mittels eines Souveränitätsaktes des gesamten deutschen Volkes, sei es in Form von Volksabstimmung(en) in der BRD und der DDR oder der Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung. Vielmehr bediente man sich eines juristischen Tricks: Das gesamte DDR-Gebiet wurde in fünf neue Bundesländer aufgelöst, die als Bundesländer nach Artikel 23 GG der BRD beigetreten sind und die damit auch das Grundgesetz der BRD übernommen haben. Gleichzeitig wurde die Präambel verändert und der Passus, die Einheit Deutschlands erfolge „in freier Selbstbestimmung“, gestrichen und Artikel 23 GG selbst aufgehoben.
Aus der in der Präambel des Grundgesetzes im letzten Satz genannten Aufforderung an das gesamte Deutsche Volk, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden, wurde ohne Volksbefragung der Anschluss der noch in der DDR gebildeten fünf neuen Bundesländer.
Mit der Wirksamkeit des Einigungsvertrages am 3. Oktober 1990 als Bundesrecht erlischt die Existenz des einen Vertragspartners, nämlich die der DDR. Als sie noch als Vertragspartner bestand, wurde der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ am 12. September 1990 von den USA, der UdSSR, Großbritannien, Frankreich, der BRD und der DDR unterzeichnet. Und als der Vertrag am 15. März 1991 in Kraft trat, gab es die DDR und damit diesen Vertragspartner ebenfalls nicht mehr. Dieses so aparte wie kuriose Verfahren gilt als Souveränitätsakt der deutschen Einheit und als Friedensvertrag mit Deutschland zur Beendigung des Zweiten Weltkrieges.
Schlagwörter: Besatzungsstatut, Einigungsvertrag, Grundgesetz, Wilma Ruth Albrecht