27. Jahrgang | Nummer 9 | 22. April 2024

Ein Igelleben

von Renate Hoffmann

Nachtaktiver Tagschläfer, er ist König der Tiere, nicht Leo, der Löwe. Der heimische Braunbrustigel läuft ihm den Rang ab. Er hat die Wahl als Wildtier des Jahres 2024 gegen die Kandidaten Fuchs und Eichhörnchen souverän gewonnen.

Der Sieger darf mit Stolz auf seine Vergangenheit zurückblicken. Bereits im Erdzeitalter des Paläozäns (es begann vor 66 und endete vor 56 Millionen Jahren) war er unterwegs. Zwar trug er seinerzeit einen etwas abgewandelten Habitus. Aber Igel bleibt Igel. Seine verwandtschaftlichen Beziehungen reichen weit. Da gibt es neben anderen den Weißbrustigel, auch den Kleinohr- und den Langohrigel. Die europäischen Arten fühlen sich dem afrikanischen, dem Wüsten- und dem Steppenigel verbunden.

Diese sympathischen kleinen Stacheltiere gelten als friedfertig und wehrhaft zugleich. Haben sie doch 6000 bis 8000 Stacheln auf dem Rücken (Wer die wohl gezählt hat?), die einem geheimnisvollen Mechanismus gehorchen. Das Prinzip: Jedem Stachel einen Muskel, zum Aufrichten, wenn Gefahr droht. Dann rollt sich der Igel blitzschnell zu einer Kugel zusammen, zieht Kopf und Beine ein, stellt die Stacheln auf und wird so zu einer gut gerüsteten Drohung. Wer trotzdem einen Angriff wagt, holt sich eine blutige Nase.

Gehör- und Geruchssinn funktionieren auf das Beste, die dunklen Knopfaugen nur mäßig; sie schauen aber lustig in die Welt.

Die Igeltiere sind Nachtschwärmer. Ihre Nahrungssuche verlegen sie in die Abenddämmerung und in die Nächte (mit und ohne Mond). Was am Boden kriecht, läuft und springt, nehmen sie gern auf: Spinnen, Laufkäfer, Regen- oder Ohrwürmer, Tausendfüßer, Larven, Schnecken; zwischendurch, je nach Gelegenheit und Appetit – Frosch und Maus. Mit vegetarischer Kost haben Igel nichts im Sinne.

Begegnen kann man den Nachtaktiven, sofern man in der Dämmerstunde spazieren geht, an Feldrain und Waldrand, in Parkanlagen, vielleicht sogar im eigenen Garten. Sind sie nicht zu sehen, so geben sie doch Laut und grunzen und schnauben, was das Zeug hält, aus Wohlbehagen oder Kampfgeist. Aber die Friedfertigkeit überwiegt, weshalb der Igel – schon in der Antike – mancherorts als Haustier galt und auch gegenwärtig als solches gehalten wird. Amerika und Australien sind zu bedauern, denn sie kennen, nach glaubhafter Aussage, diese Tiere noch nicht.

Rückt der Spätsommer näher, so steht das große Ereignis bevor: Der Winterschlaf. Sinkende Außentemperaturen, Nahrungsmangel und kürzer werdendes Tageslicht erfordern eine tiefgreifende Änderung der bisherigen Lebensweise. Etwa fünf Monate beträgt die Schlafenszeit. Doch zuvor muss für ein ausreichendes Fettpolster gesorgt werden. Der Stoffwechsel ist weitgehend zu reduzieren, Atmung, Herzschlag und Körpertemperatur sind auf ein Minimum zu senken, respektive der Außentemperatur anzugleichen. Und durchhalten, durchhalten, durchhalten! Rechtzeitig baut sich der Igel ein allseitig isoliertes Nest und harrt der Dinge, die da kommen werden.

Das Erwachen der Tiere ist ebenso anstrengend wie das Einschlafen. Es genügt nicht der Befehl: Aufstehen! Es ist Frühling! Dazu braucht es fünf bis sechs Stunden. Sämtliche Lebensgeister sind wieder auf Hochtouren zu bringen. Blinzelt der Abgemagerte in die Sonne, bedrängt ihn zweierlei: Hunger und Durst. Er schmatzt und schlürft nach Herzenslust, was sich ihm in den Weg stellt. Nun ist die Igelwelt wieder heil.

Der beliebte stachelige Kerl wird und wurde in die Literatur aufgenommen. Christian Morgenstern bedichtete ihn auf tragisch-komische Weise und voller Mitgefühl (welches sich beim Lesen ebenfalls einstellt):

„Igel und Agel.

Ein Igel saß auf einem Stein / und blies auf einem Stachel sein. / Schalmeiala, Schalmeialü! / Da kam sein Feinslieb Agel / und tat ihm schnigel schnalgel / zu seinen Melodein. / Schnigula schnagula / schnaguleia lü!

Das Tier verblies sein Flötenhemd … / ‚wie siehst du aus so furchtbar fremd!?‘ / Schalmeiala schalmeialü –. / Feins Agel ging zum Nachbar, ach! / Den Igel aber hat der Bach / zum Weiher fortgeschwemmt. / Wigula Wagula /waguleia wü / tü tü …“

Als geübter Kenner der Verhaltensforschung erwies sich Theobald Tiger, alias Kurt Tucholsky, gleich in den beiden ersten Zeilen seines Gedichtes: „Wenn die Igel in der Abendstunde / still nach ihren Mäusen gehen, / hing auch ich verzückt an deinem Munde, / und es war um mich geschehn – / Anna-Luise –!“

Es folgen weitere Strophen, die sich aber mehr mit Anna-Luise und weniger mit den Igeln beschäftigen (erschienen 1928 in der Weltbühne).

Den Brüdern Wilhelm und Jacob Grimm kam der bekannte Tierschwank von Has und Igel gelegen. In ihren „Kinder- und Hausmärchen“ ist er in gewandelter Form zu lesen. Auf Plattdeutsch!: „Dat Wettlopen twischen den Hasen und den Swinegel up de lütte Heide bi Buxtehude“ – Der Schriftsteller Ludwig Bechstein übertrug später das Märchen ins Hochdeutsche.

Zum Inhalt: Der eingebildete Hase lässt sich auf den Wettlauf mit einem Igel ein: Wer von beiden ist der Schnellere? Der schlaue Igel holt seine gleichaussehende Liebste und beide beziehen jeweils Position an Start und Ziel. Der Hase wird durch ihr ausgetüfteltes Spiel überlistet. Gleichgültig, wo er eintrifft, der (ein) Igel ist bereits vor ihm angekommen. Fröhlich tönt dem Hochnäsigen der Ruf entgegen: „Ick bin allhie!“ Auf diese Weise jagen die Kleinen den Großen 73-mal hin und her. Dann fällt er um und ist tot. – Das ist die Geschichte vom „Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel“. „Un wenn se nich storben sünd, lewt se noch.“