27. Jahrgang | Nummer 6 | 11. März 2024

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal „Hund Wolf Schakal“ – Maxim Gorki Theater / „Ellen Babic“ – Berliner Ensemble, Neues Haus

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Gorki: Drei Streifen und ab ins Verbrechen

Ein Spiel, das einfach nur ein Spiel blieb, gab es nicht. Immer hatte alles mit den Millimetern der Machtverschiebung zu tun. Immer mit oben und unten. Mit Auslachen und Ausgelachtwerden, mit Ficken und Geficktwerden.“

Klare Ansage aus Berlin-Neukölln: Von einem der halbstarken Migrantenmachos, die im Kampf um Herrschaft heimisch wurden auf dem Schlachtfeld Straße, nicht aber in der Gesellschaft. Die nämlich verachten sie, da fühlen sie sich fremd, unverstanden, ausgestoßen. Zeigen allen anderen die Stinkefinger und leben ungesetzlich nach eigenen Gesetzen.

Der Autor Behzard Karim Khanis erzählt darüber in seinem biografisch gefärbten Debütroman von 2022 „Hund, Wolf, Schakal“. Er machte ihn quasi über Nacht berühmt; sonderlich durch die überwältigende Kraft seiner Sprache, ihre schonungslose Drastik sowie ihren unerhört poetischen Klang. Hart und Zart. Meisterlich.

Karim Khani gelangte als Kind aus Teheran in den Ruhrpott. Seine Mutter wurde im berüchtigten Evan-Foltergefängnis vom Mullah-Regime ermordet, Sohn und Vater, ein politisch organisierter Marxist, glückte die Flucht. Später kam Khani nach Berlin, arbeitete journalistisch, betrieb in Kreuzberg die Lugosi-Bar und wurde zum genauen Beobachter der Ghetto-Gangs. Tief drang er da ein in die eiskalten Mechanismen ihrer Machtverteilung beim Dealen, Schlagen, Messerstechen und schnell groß Geld machen; erspürte aber bei diesen Rasenden, Protzenden, auch angstvoll Verzweifelten verschüttete Sehnsüchte nach wärmendem Zuhause. Und einiges vom allgemein Menschlichen.

Eine grandiose Vorlage für Nurkan Erpulat, den aufs sinnliche Geschichtenerzählen höchst erfolgreich fixierten Regisseur (im Gorki „Dschinns“ oder „Verrücktes Blut“). Seine diesmal wuchtig minimalistische Inszenierung baut nun ganz stark auf Sprache und Sprechen, auf die Wirkmacht der scharfen, sarkastisch pointierten Dialoge, die Erpulat aus den 288 Seiten Buchtext rigoros filterte. Für eine Handvoll Testosteron-Helden (der Roman verfolgt freilich mehr Figuren), deren Bizepse aus den T-Shirts quellen und die in virtuoser Choreografie (Modjgan Hashemian) an-, mit- und aufeinander knallen. Sehr dramatisch; sehr kunstvoll. In einer leeren, oft düster vernebelten, von grellen Spots oder bedrohlichen Hip-Hop-Beats durchzuckten Black-Box (Bühne: Magda Willi).

Unter der kraftmeierischen Fünferbande sind die Brüder Saam (Dogar Gürer) und der jüngere Nima, die mit ihrem politisch verfolgten Vater, jetzt Taxifahrer (Mehmet Yylmaz), aus dem Iran nach Berlin kamen. Nima, der jüngere, im Wechsel gespielt von zwei Kindern, sondert sich rasch ab, schafft es aufs Gymnasium – die nur knapp angerissene Alternative zum kriminellen Sumpf (wohl ein Selbstbild des Autors).

Saam hingegen, anfangs träumerisch und schwächlich, lässt sich einpressen ins verhängnisvolle System, in dem allein schon Klamotten das Oben oder Unten klären: Zwei Streifen heißt Caritas, drei Streifen Adidas. Und Saam will Adidas. Will oben sein, kein weicher Junge, sondern ein Mann, eisenhart. Und steigt unter Beihilfe falscher Freunde, vor allem unterm Beifall von Obermacker Heydar (Edgar Eckert), Stufe für Stufe hinab ins Verbrechen. Er wird zum skrupellosen Auftragskiller und landet im Knast.

Dort kommt es zu einer entsetzlich eskalierenden Prügelei, die von den Beamten niedergeknüppelt wird. Das, minutenlag gespielt in Zeitlupe, als knochenbrechendes Ballett des Grauens. Und – als schockierender Kontrast und Steigerung ins Monumental-Archaische – unterlegt vom so unendlich wehmutsvoll weltverlorenen Adagietto aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie.

Die brutalen, bitteren Szenen aus dem Unterwelt-Milieu überwältigen mit ihrer geradezu spektakulären Vehemenz und schauspielerischen Präsenz. In Erpulats tiefschwarz gerahmter, fatalistisch durchwehten, bis ins Artifizielle getriebenen Inszenierung wirkt das als erschütterndes Menetekel.

 

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BE: Verstörend unklare Beweislage

Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?“ So fragten trällernd freche Frauen vor hundert Jahren mit gewitztem, schon deutlich emanzipatorisch gemeintem Augenaufschlag. Derartige Fragen haben sich längst erledigt. Wir haben andere: Etwa, ob das Verhältnis fair ist; ob da Machtausübung, Gewalt, gar Missbrauch mitspielen. Fragen, die heutzutage vornehmlich und zu Recht sehr energisch Männern gestellt werden bezüglich Beziehungen zu Frauen oder Kindern. Frauen freilich bleiben da eher außen vor; Minderheiten (Stichwort queer) sowieso.

In seinem neuen Stück „Ellen Babic“ befragt Marius von Mayenburg vornehmlich eine lesbische Frau. Astrid (Bettina Hoppe), erfolgreiche und beliebte Gymnasiallehrerin, lebt seit vielen Jahren offen und allgemein akzeptiert zusammen mit der deutlich jüngeren Klara (Lili Epply), ihrer ehemaligen Schülerin. Eines Abends kommt, korrekt angemeldet, Astrids Vorgesetzter zu Besuch. Es ist Wolfram, der ihr kollegial-freundschaftlich zugeneigte Musiklehrer und Schuldirektor (Tilo Nest). Um „etwas Persönliches“ im privaten Rahmen zu besprechen.

Klara findet das unmöglich. Sie verdammt hinterrücks Wolfram als „großes Arschloch“, der ihr einst als Pädagoge unprofessionell und als Schöngeist vermeintlich ungebührlich zu Nahe trat.

Nach anfänglich befremdlichem Geplänkel zwischen Astrid und Wolfram, man mag das als alberne, mit Weißwein beförderte Lockerungsübung abtun, spitzt sich die Lage schnell zu: Wolfram konfrontiert Astrid mit der Elternbeschwerde ihrer Schülerin namens Ellen Babic. Erst nach einigem Hin und Her legt Astrid alle Vorwürfe bestreitend offen: Ja, auf der mehrtägigen Klassenfahrt kam es nachts zu einem Besäufnis (wie das so geht bei Sechzehnjährigen). Ellen lag betrunken am Boden, erbrach sich, sie habe sich um sie gekümmert, auf ihr Zimmer in ihr Bett gebracht. Sie selbst habe – selbstverständlich! – auf dem Sofa geschlafen. Am nächsten Morgen sei alles okay gewesen.

Doch Ellens Vater hat Astrid beim Direktor angezeigt: Wegen Missbrauchs der minderjährigen Schutzbefohlenen nach Eingabe von KO-Tropfen. Astrids Vernichtung – beruflich wie moralisch – wäre die Folge von Wolframs immerhin zwingender Meldung an die Behörden. Was tun, fragt er entnervt, der gerade in Begriff war, Astrid zu seiner Nachfolgerin als Schulleiterin vorzuschlagen. Er wolle im Ruhestand fortan nur noch Musik machen. In seiner Kirchgemeinde als Organist.

So steht nun der schwere Vorwurf, stehen Aussage gegen Aussage im Raum. Hinzu kommt Wolframs belastender, freilich unbewiesene Verdacht, Astrid habe die damals minderjährige Klara verführt.

Doch da packt Astrid aus. Sie droht mit einer akribisch geführten, juristisch belastbaren Dokumentation, die Wolframs jahrelanges übergriffiges Verhalten ihr gegenüber auflistet. Wolfram, alleinstehend, unverheiratet, fällt aus allen Wolken und bestreitet alles. Das sei immer rein liebevoll-freundschaftlich gewesen. – Vielleicht aber auch nur, um von seiner – das schwebt im Raum – verklemmten Homosexualität abzulenken (großes Fragezeichen).

Die Gemengelage aus Schuldzuweisungen, Rechtfertigungen, Verdrängungen, Vertrauensverlusten, einander Erkennen und Verkennen wird im Verlauf der rhetorischen Kampfgewitter immer unübersichtlicher. Erst recht, als Astrid nach Wolframs verzweifelt-wütendem Abgang Klara gesteht, ihr Me-Too-Verzeichnis existiere überhaupt nicht. Eine Lüge als Waffe zur Selbstverteidigung – Klara reagiert kopfschüttelnd und verlässt – ob für immer? – Astrid.

Mayenburgs so lebensecht mit geschliffenen Dialogen geführte Redeschlacht inszeniert Oliver Reese mit souveräner Zurückhaltung ganz im Vertrauen auf die furiose Könnerschaft des grandiosen Trios – es zählt zum Besten der Stadt. Die drei agieren, der Regisseur nennt sie bewundernd „Überzeugungsschauspieler“, in einem leicht versenkten Viereck (Bühne: Janina Kuhlmann). Es markiert das Wohnzimmer der Frauen, die geschlossene Kammer für das ausweglose packende Psychospiel.

Denn die unvollkommen ausgeräumten Verdächtigungen, das vielfach Unausgesprochene, Unbeantwortete – am Ende stehen sämtliche bisherige Gewissheiten auf der Kippe; ist alles verschoben und unklarer denn je. Nun traut keiner, traut keine mehr einander. Lauter unglücklich Verzweifelte.

Wer da noch immer auf eine knallige Schlusspointe lauert mit Ansage, wer hier Opfer ist und wer Täter, der wird enttäuscht. Und darf auf dem Nach-Hause-Weg weiterhin stochern im Nebel der in solchen Fällen notorisch unklaren Beweislage. Auch eine Art Nachhaltigkeit des Theaters.