27. Jahrgang | Nummer 6 | 11. März 2024

Noch einmal Brigitte Reimann

von Mathias Iven

Gerade erst wurde mit Neu- und Nachauflagen ihres 50. Todestages beziehungsweise 90. Geburtstages gedacht (siehe Blättchen 5/2023), da gilt es auf zwei bemerkenswerte Neuerscheinungen aufmerksam zu machen.

In seiner jüngst vorgelegten Biographie hat Carsten Gansel den Blick vor allem auf Reimanns Frühwerk gelenkt. Einiges davon hat er jetzt für den Band „Katja. Erzählungen über Frauen“ zusammengestellt. Die großteils unveröffentlichten Texte zeigen, so Gansel, „in wie hohem Maße Brigitte Reimann ihrer Zeit voraus war: Sie stellt die Fragen nach Gleichberechtigung und Emanzipation – auch wenn dieses Wort nicht fällt – so früh wie wohl keine andere in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, mit Ausnahme der um sieben Jahre älteren Ingeborg Bachmann.“ Bei all dem ist es aus heutiger Sicht bedauerlich, dass der am Beginn ihres künstlerischen Weges stehenden Schriftstellerin insbesondere seitens der dem damaligen Literaturverständnis verhafteten Kritik nicht die entsprechende Wertschätzung entgegengebracht wurde.

Einer der frühesten überlieferten Reimann-Texte ist „Die Probe“, ein für die Schulweihnachtsfeier 1948 geschriebenes Laienspiel in drei Aufzügen, mit dem die gerade einmal Fünfzehnjährige erstmals den Blick einer breiteren Öffentlichkeit auf sich zog. Ging es ihr doch nicht nur um Unterhaltung, sondern vor allem um eine für die Nachkriegszeit wichtige politisch-emanzipatorische Botschaft. Geradezu bescheiden fasste sie den Inhalt des Stückes gegenüber einer Freundin in den nichtssagenden Satz: „Übrigens handelt das Stück von Kameradschaft zwischen Jungs und Mädchen.“

Zu Beginn der fünfziger Jahre plante Reimann einen Novellenband, in dessen Zentrum Frauenfiguren stehen sollten. „Claudia Serva“, geschrieben 1952, war eine der drei dafür von ihr vorgesehenen Erzählungen. Die Handlung, in deren Mittelpunkt die Sklavin Claudia Serva steht, spielt in Rom zur Zeit der Sklavenaufstände. Inhaltlich läuft die Geschichte am Ende auf die an alle Unterdrückten gerichtete Forderung zu, selbst über den eigenen Lebensweg zu entscheiden.

In einer zweiten, zur gleichen Zeit entstandenen und in Reimanns Heimatstadt Burg spielenden Erzählung mit dem Titel „Reifeprüfung“ geht es um eine allbekannte Konfliktsituation zwischen heranwachsenden Jugendlichen und deren Eltern. Letztere wollen nur das Beste für ihre Tochter und verbieten ihr den Umgang mit ihrem Freund. Die Mutter argumentiert: „Er verdirbt Karla in Grund und Boden, sie ist ein richtiger Widerspruchsgeist geworden, wer weiß, was er noch alles mit ihr anstellen wird.“ Und ganz kleinbürgerlich klagt sie: „Wir sind schon in aller Leute Munde –“ Die siebzehnjährige Karla hingegen denkt: „Wenn man sie doch endlich eigene Wege gehen ließe, ihr nicht ständig vorschriebe, wie sie sich zu benehmen, mit wem sie zu verkehren, was sie zu tun und zu lassen habe …“ Am Ende steht eine ungewollte Schwangerschaft und der aus der damaligen Rechtsprechung resultierende Gewissenskonflikt des Arztes. Dieser stark autobiographisch geprägte Text – Reimann war selbst vor dem Abitur schwanger und entschied sich gegen das Kind – verstand sich vor allem als Kritik an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die junge Frauen in eine derart ausweglose Lage brachten.

Als drittes sollte die im August 1953 in sechs Fortsetzungen in der Magdeburger Volksstimme veröffentlichte Erzählung „Katja“ Teil des geplanten Buches werden. Darin geht es um einen aus alten Rollenklischees resultierenden Konflikt: Gerd, der als Arzt arbeitet, verlangt von Katja, dass sie nach der Heirat mit ihrem Studium aufhören und sich nur noch um den Haushalt kümmern soll. Ihr Streit darüber eskaliert: „Die höchste Aufgabe der Frau wäre es aber, ihrem Gatten und ihren Kindern zu leben, gab er zur Antwort, wogegen sie heftig behauptete, dies sei eine Ansicht vergangener Zeiten und nicht zu vereinen mit der Gleichberechtigung der Frau.“ Die schließlich vollzogene Trennung Katjas von ihrem Mann lässt sich als Vorgriff auf den zwei Jahrzehnte später von Reimann geplanten Schluss des unvollendeten Romans „Franziska Linkerhand“ lesen. In ihrem letzten Gespräch mit Christa Wolf, geführt fünf Tage vor ihrem Tod, hatte sie sich diesen wie folgt gedacht: „Sie geht, obwohl sie ihn liebt, weil er ihr nicht genüge, weil es Wichtigeres gebe als Liebe, weil er schlapp ist und nicht hochkommt und sie produktiv sein wolle. Er würde sie hemmen.“

Ein Dank an den Herausgeber, dass er diese heute so aktuellen Texte dem Vergessen entrissen hat.

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Unter dem Datum des 15. März 1965 findet sich in Brigitte Reimanns Tagebuch folgender Eintrag: „Lernte Günter de Bruyn kennen, der mir einen vorzüglichen Eindruck machte […]. Er wäre einer, den ich mir zum Freund erwählen würde.“ Zehn Tage darauf, am 26. März, als sie in der Akademie der Künste für ihr Buch „Die Geschwister“ den Heinrich-Mann-Preis erhielt, notierte sie: „Sympathie auf den ersten Blick, Freude über diese Begegnung …“ Und am 29. Juni 1970 gestand sie sich, de Bruyn sei „eben immer noch meine stille Liebe, die Möglichkeit, die sich nie verwirklicht, aber als Möglichkeit schön und voller Reiz ist“.

Ein beeindruckendes Dokument dieser Beziehung ist ihre nicht einmal dreißig Briefe umfassende Korrespondenz. Diese wenigen, von Carola Wiemers herausgegebenen und ausführlich kommentierten Mitteilungen, geschrieben zwischen 1966 und 1973, sprechen von einer Freundschaft, „die von gegenseitigem Interesse am literarischen Werk und von Zuneigung und Respekt geprägt war“. Ein Ausdruck dieses respektvollen Verhältnisses war vielleicht auch die Tatsache, dass sie niemals zum Du übergingen und sich erst in ihren letzten Briefen mit dem Vornamen ansprachen.

Ging es in der ersten Zeit ausschließlich um Terminabsprachen für Lesungen, so rückte doch sehr schnell der Austausch über die alltäglichen Probleme des Schreibens ins Zentrum. Verständnisvoll wurde auf Sorgen und Zweifel eingegangen, vor allem aber wurde dem Gegenüber Mut gemacht. So geschehen im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von de Bruyns Roman „Preisverleihung“. Nach der Lektüre eines im Herbst 1969 vorab veröffentlichten Auszuges (der Roman sollte erst drei Jahre später erscheinen) hatte Reimann ihm geschrieben: „Es scheint, Sie haben Ihre eigene Erzählweise gefunden, unverwechselbar im besten Sinne.“ Und mit Blick auf die eigenen leidvollen Erfahrungen mit der Zensur erklärte sie ein Vierteljahr darauf: „Und die Schwierigkeiten später, wie immer: ein fertiges Buch ist ein Argument, es ist in der Welt und kann nicht liquidiert werden, nicht mal durch Schweigen.“

Im Januar 1973 war Günter de Bruyn mit einem neuen Projekt befasst, das ihn verzweifeln ließ: „Dazu wird mein Jean-Paul-Vorhaben mir immer fragwürdiger. Ich lese und studiere unentwegt, und je mehr ich lese, je mehr ich weiß, desto verworrener wird alles. Ich verfluche den Größenwahn, der mich zu dieser Arbeit trieb und kann doch nicht mehr zurück.“ Das Erscheinen von de Bruyns „Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter“ sollte Brigitte Reimann nicht mehr erleben. Sie starb am 20. Februar 1973.

Bis zum Schluss hatte Reimann an ihrem postum veröffentlichten Buch „Franziska Linkerhand“ gearbeitet. Am 8. September 1974 notierte Günter de Bruyn dazu: „Heulende Wut packt mich beim Lesen von Brigittes ,Franziska Linkerhand‘ – weil es so gut ist, so viel besser als alles, was sie vorher gemacht hat – und das erlebt sie nicht mehr! […] Ich müßte unbedingt aufschreiben: meine Begegnungen mit ihr, die letzten Wochen im Krankenhaus, der Priester, Trost (?) im Glauben …“ Doch erst im Jahre 2004, so beschreibt es Carola Wiemers in ihrem Nachwort, als der unter der Regie von Markus Imboden entstandene Film „Hunger auf Leben“ gezeigt wurde, der zum großen Teil auf dem Stoff der Reimann-Tagebücher basiert, „fühlte sich Günter de Bruyn dann doch indirekt dazu aufgefordert, die inzwischen mehr als drei Jahrzehnte zurückliegenden Erinnerungen wenigstens als Tagebucheintrag festzuhalten“. Die Notiz vom 19. Juni 2004 lautete: „Das Ganze zu bilderbuchartig. Nichts wird klar, nichts vertieft. […] Zum wahren B.-R.-Bild gehört aber: 1. ihre körperliche Behinderung 2. ihre (sich aus 1 ergebende) Suche, geliebt zu werden. Um das zu erreichen war sie chamäleonartig. Sie wurde immer zu der Frau, die sie, wie sie meinte, sein müßte, um geliebt zu werden.“

Brigitte Reimann: Katja. Erzählungen über Frauen, Aufbau Verlag, Berlin 2024, 235 Seiten, 22,00 Euro.
„Ein fertiges Buch ist ein Argument“. Brigitte Reimann und Günter de Bruyn in Briefen, hrsg. von Carola Wiemers, Quintus Verlag, Berlin 2024, 112 Seiten, 20,00 Euro.