27. Jahrgang | Nummer 7 | 25. März 2024

Geburtstagsbrief an Christa Wolf

von Eberhard Görner

Liebe Christa, heute, am 18. März, bist Du vor 95 Jahren in Landsberg an der Warthe der Welt geschenkt worden. Dass Du einmal als Schriftstellerin so berühmt wurdest, dass für Dich der Literaturnobelpreis vorsichtig ins Gespräch kam, hättest Du Dir damals, als Du mit 16 Jahren die Landschaft Deiner Kindheit per Flucht Richtung Westen verlassen musstest, wohl nicht träumen lassen. Dein Kindheitstrauma, Deinen Roman „Kindheitsmuster“ – wir wollten ihn Mitte der 90er Jahre in der neuen Deutschen Demokratischen Bundesrepublik verfilmen, aber da warst Du schon nicht mehr gefragt für ein Thema, das sich wagte, der unglücklichen deutschen Geschichte den Spiegel vorzuhalten.

Wenn Du heute Deinen 95. Geburtstag feiern würdest, mit Deiner Familie, in Deinem Bücherparadies, in Berlin-Pankow, am Amalienpark o7, vielleicht wären wir Deine Gäste, um gemeinsam darüber nachzudenken, ob sich die Anstrengungen gelohnt haben, aus Deinem 1972 veröffentlichten „Selbstversuch. Traktat zu einem Protokoll“, zum Thema Geschlechtertausch, einem Werk von nur 33 Seiten, einen großen Spielfilm zu gestalten? Die Idee dazu, diese futuristische Geschichte bei der DEFA im Auftrag des Fernsehens der DDR zu produzieren, hatte Alfred Nehring, damals Chefdramaturg für die Abteilung Theater und Weltliteratur, im Bereich Dramatische Kunst im Fernsehen der DDR. Du warst, wie ich mich erinnere, liebe Christa, sehr skeptisch, ob das gelingen kann, auf eine solche Frage: Was wäre, wenn ich ein Mann, was, wenn ich eine Frau wäre … mit einer filmischen Adaption Deines Textes zu antworten. Um Dich zu überzeugen, dass der Szenarist Eberhard Görner, der Dramaturg Alfried Nehring und der Regisseur Peter Vogel Deinen filmischen Vorstellungen entsprechen, haben wir Dich zu einer Sondervorstellung ins Kino eingeladen, um Dir unseren 1987 neu gedrehten Film „Die erste Reihe“ nach der Erzählung von Stephan Hermlin zu zeigen, der ebenfalls bei der DEFA im Auftrag des DDR-Fernsehens produziert wurde. Ich weiß noch, dass Du sehr berührt und beeindruckt warst von Johanna Schall, Enkeltochter von Bertolt Brecht, welche die Rolle der Lilo Hermann spielte, die erste Frau in Nazi-Deutschland, die wegen Widerstand gegen Hitler zum Tode verurteilt wurde. Und obwohl das Filmprojekt noch in weiter Ferne lag, meintest Du, dass Du Dir Johanna Schall als die Wissenschaftlerin Johanna, die sich per Experiment in einen Mann verwandeln lässt, in einem Film „Selbstversuch“, falls er zustande käme, gut vorstellen kannst.

Also, die Verträge wurden gemacht, und ich bin damals als Szenarist wirklich ins kalte Wasser gesprungen, weil ich keine Ahnung hatte, was da auf mich an wissenschaftlichen Recherchen zukam. Ich wurde plötzlich mit Tatsachen konfrontiert, die ich mir nicht vorstellen konnte, zum Beispiel, dass es an der Berliner Charité ein Ethik-Institut gab, wo sich Menschen meldeten, die sich von einem Mann in eine Frau verwandeln lassen wollten oder umgedreht. Dass schon damals ein großer gesellschaftlicher Druck wegen Geschlechtertausch herrschte, davon hatte ich keine Ahnung. Auch was da an Tierversuchen zu diesem Problem weltweit stattfand.

Viele Fragen wollten Antworten, die bis in die Musik reichten. Als ich meiner guten Freundin, der berühmten Pianistin Veronica Jochum von Moltke, in München von unserer Geschlechtertausch-Verfilmung erzählte, war sie gar nicht verwundert, sondern erzählte mir, dass der Komponist Robert Schumann die Kompositionen seiner Frau Clara Schumann jedes Mal veränderte, weil sie ihm zu weiblich waren. Quasi, ein kompositorisches Geheimnis, das Veronica Jochum von Moltke im Film am Klavier entschlüsselte.

In einem Interview, dass Du liebe Christa, in der Zeitschrift Film und Fernsehen im Februar 1990 Alfried Nehring gabst, hast Du sehr eindringlich Deine Motive benannt, warum Dir diese Geschichte so wichtig war, die Nehring mit „Anpassung als Voraussetzung für Chancengleichheit“ definierte. Deine Überlegung lautete: „Es war ein erster Anlauf, mein Einfall, dass ich eine Wissenschaftlerin nehmen würde. Mir kam da zugute meine vorherige Beschäftigung mit biologischen Problemen. Es stand für mich sehr schnell fest, dass diese Wissenschaftlerin an sich selbst einen Versuch vornehmen würde oder vornehmen lassen sollte. In mir tauchte als Vision auf, dass es sich hier um eine weitere besonders gefährliche Variante der über die Jahrhunderte hin gehenden Unterdrückung des weiblichen Elements handeln würde, auch in Männern übrigens. Es ging mir um die Unterdrückung der Frau in der Geschichte der Zivilisation. Meine Kernidee war: Eine Frau muss werden wie ein Mann, damit sie in der Männerwelt nicht nur Erfolg haben kann, sondern anerkannt wird und so – perverse Formulierung – sich selbst verwirklichen kann‘. Ich wollte zeigen, in welch perverse Rolle wir gedrängt werden, als Frauen gedrängt wurden in unserer Zivilisation.”

Uns hat bei der Besichtigung der filmischen Rohfassung mit Dir sehr beruhigt, dass Dir die starke Wissenschaftskritik, die wir in den Film eingebracht haben, sehr recht war, was Du in Deinem Interview nochmals bestätigt hast: „Sie gilt nicht der Wissenschaft, sondern dem Wissenschaftsapparat, der durch männliches Denken dominierten Wissenschaftsinstitution. Das scheint mir der Film deutlicher herauszubringen in seiner Ausprägung als die Erzählung.“

Neben Johanna Schall hat Regisseur Peter Vogel mit dem Schauspieler Hansjürgen Hürrig eine Wissenschaftlerfigur gesetzt, die voller Überzeugung ist, vom ungebremsten und unkontrollierten Fortschritt der Wissenschaft: „Was gemacht werden kann, wird gemacht!“ Ein Fortschritt, von dem der amerikanische Biochemiker Erwin Chargaff in unserem 1996 in New York geführten Gespräch resigniert feststellte: „Der Mensch hat den Atomkern und den Zellkern misshandelt!“

Wenn wir, liebe Christa, heute mit Dir Deinen 95. Geburtstag feiern könnten, säße sicher der großartige Schauspieler Henry Hübchen mit uns in der Runde. Er spielt einen Wissenschaftler im Film-Labor, in dem das barbarische Experiment ausprobiert wird, und er kämpft umsonst um die Liebe von Johanna. Die Dreharbeiten zu „Selbstversuch“ begannen im Mai 1989. Auf die Frage nach dem Drang unseres Zeitalters nach Wissenschaft und Forschung hast Du geantwortet: „Unser wissenschaftliches Zeitalter wird nicht sein, was es sein könnte und sein muss – bei Strafe einer unerhörten Katastrophe –, wenn nicht die Kunst sich dazu aufschwingt, dem Zeitgenossen, an den sie sich wendet, große Fragen zu stellen, nicht lockerzulassen in ihren Forderungen an ihn, sich der Forderung zu stellen, dass der Mensch nur dann seine Erfüllung finden kann, wenn er nicht vergisst, den Menschen zu lieben …“ Nach der Sendung im ZDF bewertete die Allgemeine Zeitung in Mainz, am 15. Mai 1990, den Film „Selbstversuch“ so: „Die Kontraste, die der Film zeichnet, sind von beunruhigender Glaubwürdigkeit.“

Gerne hätte ich mit Dir, liebe Christa, nach erfolgreicher Aufführung des Films auf dem Internationalen Filmfestival „Prix Italia“ 1990 in Palermo, einen kühlen Wein getrunken, aber den trinke ich heute Abend auf Deinen Geburtstag, mit dem guten Gefühl, dass unser Film „Selbstversuch“ heute so aktuell ist in seiner Chargaff-Warnung, wie wir es uns vor 35 Jahren noch nicht vorstellen konnten!

Dein Verehrer Eberhard Görner