27. Jahrgang | Nummer 6 | 11. März 2024

Auf der Höhe der Macht

von Ernst Ottwalt

1932 erschien bei Hess & Co., Wien / Leipzig, Ernst Ottwalts Buch „Deutschland erwache! Geschichte des Nationalsozialismus“. Die Studie ist eine der frühesten Analysen des Aufstiegs der NSDAP überhaupt und hinsichtlich ihrer Befunde von bestechender Hellsichtigkeit. Der Schriftsteller, Mitglied der KPD, wurde in der Folge des 1. Moskauer Prozesses im Herbst 1936 verhaftet. Ernst Ottwalt starb in einem Zwangslager in der Nähe von Archangelsk am 24. August 1943. Sein Werk – und seine Person – sind heute weitgehend dem Vergessen anheimgefallen.
Der hier wiedergegebene Text ist das leicht gekürzte 4. Kapitel seines Buches. Gerne räume ich selbst ein gewisses Erschrecken bei der Erstlektüre dieses Textes ein.

W.B.

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„Mit einer Zehnmillionenpartei kann man keine Revolution machen.“

Adolf Hitler

 

Etappensieg

 

Januar 1930. Frick regiert als Innenminister den Freistaat Thüringen. Die nationalsozialistische Presse überschlägt sich förmlich in wildem Triumph. Das einfache Parteimitglied sieht in der Tatsache, daß einer der ihren Minister eines parlamentarisch regierten deutschen Landes sein darf, ein Zeichen für den ungeheuren Vormarsch der nationalsozialistischen Idee.

Die NSDAP zählt um diese Zeit etwa zweihunderttausend eingeschriebene Mitglieder, die in 28 Gauverbänden in ganz Deutschland organisiert sind. Zweihunderttausend Menschen, die bedingungslos den Weisungen des „Obersten Parteiführers“ folgen. Die Parteileitung hält die Zeit für gekommen, eine Mitgliedersperre für bestimmte Zeit zu verhängen, um die Bewegung zu „säubern“ Ein Geheimbefehl an die einzelnen Gauleiter bestimmt, daß alle diejenigen, „von denen angenommen werden kann, daß sie in Zukunft für die Partei ohne praktischen Nutzen sind (säumige Zahler, faule Versammlungsbesucher, schwache und feige Charaktere, Konjunkturanhänger, Lärm- und Radaumacher, Säufer usw.)“ aus der Partei ausgeschlossen werden sollen. Man kann es sich jetzt leisten, exklusiv zu werden: Auf der Höhe der Macht.

Aber die Macht muß genutzt werden. Die Augen ganz Deutschlands sind auf Thüringen gerichtet, wo Frick das nationalsozialistische Wollen in die befreiende Tat umsetzen wird. „Parteigenosse Frick“ wird zu einer mythologischen Persönlichkeit in den Augen der Nationalsozialisten.

Was wird er tun? Die Auguren lächeln, sie wissen: nichts, was der herrschenden Klasse gefährlich werden kann.

 

Kameralistische Komödien

 

Frick ist Verwaltungsbeamter. Er beherrscht die Kniffe, mit denen arrogante und intrigante Untergebene ihren Vorgesetzten das Leben schwer machen können, ohne sich dabei Blößen zu geben, und von dieser Fähigkeit macht er ausgiebig Gebrauch. Fricks erste Regierungsmaßnahmen betreffen die Polizei des Freistaats Thüringen. Die demokratische Presse schäumt vor Wut, wie Frick systematisch die Polizei mit nationalsozialistischen Elementen durchsetzt. Die Republikaner haben vergessen, daß Severings Methode, die unzuverlässigen kommunalen Polizeiorgane auf dem Wege der Verordnung zu verstaatlichen, seinerzeit als Tat höchster staatsmännischer Klugheit gepriesen worden ist. Gut: Frick tut das Gleiche, genau das Gleiche. Er überschreitet nicht die Grenzen, die die Verfassung ihm gezogen hat, wenn er die kommunale Polizei in allen größeren Städten des Landes auflöst und sie unter die Befehlsgewalt zuverlässiger nationalsozialistischer Kommandeure stellt.

Der Reichsinnenminister Severing sperrt dem Freistaat Thüringen die Unterstützungen, die das Reich an das Land für dessen Polizeikosten zu zahlen hat. Sperrt sie mit der plausiblen Begründung, daß die thüringische Polizei eines Tages vielleicht den Bestand des Reiches gefährden kann, wenn sie in der Hauptsache aus Nationalsozialisten besteht. Er vergißt nur eines: daß Deutschland eine parlamentarische Republik ist, und daß die Mehrheit eines Parlaments mit Fug und Recht mit dem Lande tun kann, was ihr behagt.

 

Kampf um die Polizei

 

Der Kampf um die thüringische Polizei endet mit einem vollen Mißerfolg des Reichsinnenministeriums. Fricks Klage gegen das Reich wird vom Staatsgerichtshof zwar nicht in offizieller Verhandlung entschieden, doch hält der Vorsitzende dieses Gerichts die Rechtslage für das Reich für so ungünstig, daß er dem neuen Reichsinnenminister Joseph Wirth die Annahme eines Vergleichsvorschlags dringend empfiehlt. Die von Frick wegen des Verdachts sozialdemokratischer Gesinnung entlassenen Polizeibeamten und -offiziere werden vom Freistaat Preußen übernommen, und im übrigen darf Frick tun, was er will.

Die Umgestaltung der Polizei ist aber auch das einzige, was an Fricks Regierungsmaßnahmen ernst zu nehmen ist. Alles übrige ist Scharlatanerie, Verbeugung vor der Galerie eines nationalsozialistischen Theaters. Da sind die berühmten Gebete, die Frick durch eine Verordnung für alle Schulen des Freistaats Thüringen obligatorisch gemacht hat. Kindische Haßgesänge, die mit dem Artikel 148 der deutschen Reichsverfassung nicht vereinbar sind und deshalb vom Staatsgerichtshof nach einiger Zeit für ungültig erklärt werden. Immerhin haben monatelang sämtliche Schulkinder des Freistaats Thüringen folgendem „Gebet“ lauschen müssen:

„Vater, in Deiner allmächtigen Hand
Steht unser Volk und Vaterland.
Du warst der Ahnen Stärke und Ehr,
Bist unsre ständige Waffe und Wehr.
Drum mach uns frei von Betrug und Verrat,
Mache uns stark zu befreiender Tat,
Schenk uns des Heilandes heldischen Mut,
Ehre und Freiheit sei höchstes Gut!
Unser Gelübde und Losung stets sei:
Deutschland erwache! Herr mach uns frei!
Das walte Gott!“

 

Sogenannte Kulturpolitik

 

Die Kulturpolitik ist überhaupt Fricks ureigentliche Domäne. So tritt er kurz nach diesen Bemühungen um die Religion für die Erhaltung der deutschen Musik ein und verbietet kurzerhand für seinen Machtbereich die Jazzmusik, untergeordneten Polizeiorganen dabei die Entscheidung überlassend, was man darunter zu verstehen habe.

Der Universität Jena oktroyiert er den Dr. Günther, den nationalsozialistischen Rassentheoretiker, als „Professor für Rassenbiologie“ auf. Der Senat wehrt sich empört gegen die Zulassung dieses Phantasten, aber es hilft ihm nichts. Die altberühmte Universität Jena muß es weiter dulden, daß auch der berühmte Adolf Bartels Gastvorlesungen über deutsche Literatur an der Universität hält. Ein braver literarischer Handwerker, der seine künstlerische Lebensaufgabe seit Jahrzehnten darin sieht, den toten Juden Heinrich Heine in zahllosen Pamphleten mit Dreck zu bewerfen.

Bis weit in die Kreise der großbürgerlichen Hintermänner hinein erregt diese sonderbare Betätigung nationalsozialistischen Kulturwillens peinliches Erstaunen. Zum Krach kommt es jedoch, als Frick den Bildhauer Schultze-Naumburg mit der Leitung der staatlichen Kunstschule und der staatlichen Sammlungen beauftragt. Schultze-Naumburg, ein pedantischer Verfechter des seligen Biedermeier, entfernt kurzerhand Plastiken und Bilder von Ernst Barlach, Klee, Picasso und Chagall aus dem Weimarer Museum mit der einleuchtenden Begründung, diese Künstler seien „ostische Untermenschen“ und hätten in deutschen Kunstsammlungen nichts zu suchen.

Selbst die schwerindustrielle „Deutsche Allgemeine Zeitung“ kann nicht umhin, in einem Leitartikel die sture Banausenhaftigkeit dieser Kunstpolitik und Schultze-Naumburgs Engstirnigkeiten – die er auf einer Vortragstournee durch ganz Deutschland verzapft – energisch zu verwerfen.

 

Die Klassiker und der Fememörder

 

Daß der Minister Frick das Weimarer Nationaltheater, vor dem die Statuen Goethes und Schillers stehen, an Goethes Todestag dazu prostituiert, als Versammlungslokal für eine Agitationsrede des Fememörders Paul Schulz zu dienen, kann schon nicht mehr überraschen: selbst der größte Optimist hat eingesehen, daß Nationalsozialismus und Kunst trotz und wegen Adolf Hitlers Künstlerberuf nichts miteinander zu tun haben.

Über andere Maßnahmen des Ministers Frick kann man jedoch nicht mehr lachen: sie enthüllen in erschreckender und erfreulicher Weise die absolute Ideenlosigkeit der NSDAP, wenn es sich darum handelt, praktische Wirtschaftspolitik zu treiben. Es wird unwidersprochen bezeugt, Frick habe sich einmal in größerem Kreise dahin ausgelassen, er sei froh, daß die NSDAP kein Wirtschaftsprogramm habe. Man merkt es.

Fricks Wohnungspolitik beginnt damit, daß er zur Deckung der erheblichen Staatsdefizite die gesetzliche Miete um 6 Prozent erhöht. Gleichzeitig hebt er das Wohnungsmangelgesetz für rund 70 Prozent aller thüringischen Orte auf, so daß nur noch in 33 Gemeinden des Staates der Mieter vor der Willkür des Hausbesitzers geschützt war. Diese offene Mieterfeindschaft sucht Frick freilich dadurch zu verbergen, daß er für die sogenannten „teuren Wohnungen“ eine Mietserhöhung von 20 Prozent einführt. Zugleich aber setzt er die Stichzahl für die teuren Wohnungen so sehr herab, daß in einzelnen Städten Monatsmieten von nur 50 Mark bereits als „teuer“ gelten. Das sind Vergünstigungen für den Hausbesitz, die die Wirtschaftspartei im Reich bisher nur als sehnsüchtig erstrebtes Ziel kennt …

 

Ja, Bauer, das ist ganz was anderes

 

„Futterkrippenpolitik“ – ein Vorwurf, den die Nationalsozialisten unentwegt gegen das parlamentarische System erheben. Der Minister Frick hingegen bedingt sich bei seinem Amtsantritt ein Gehalt aus, das dem eines Reichsministers entspricht, und bringt als „Fachberater“ in die einzelnen Ministerien Parteigenossen, deren Gehalt fast so hoch ist wie das der zuständigen Ressortminister.

Aber das alles sind Dinge, von denen das Kleinbürgertum nichts weiß. Die „unpolitische“ Provinzpresse, die so gut wie ausschließlich von dem Geheimrat Hugenberg kontrolliert wird, berichtet von solchen Dingen nichts. Die nationalsozialistischen Agitatoren, die im Hinblick auf die kommende Reichstagswahl das Land überschwemmen, haben ebenfalls anderes zu tun, als von diesem Fiasko nationalsozialistischer Politik zu sprechen. So kann es kommen, daß ganz Deutschland immer noch in einem wahren Taumel der Verzückung auf das Wunder nationalsozialistischer Befreiung hofft.

 

Das flache Land entscheidet

 

Um diese Zeit stellt das Institut für Konjunkturforschung fest, daß die industrielle Produktion Deutschlands um rund ein Viertel, auf einzelnen Teilgebieten sogar um die Hälfte unter dem Niveau der Vorkriegsproduktion liegt. Das Aufschnellen der Arbeitslosenziffern ist nur noch mit dem Tempo der Markentwertung zu vergleichen. Arbeiter, Angestellte, Beamte, Landarbeiter und Bauern – alle stehen unter einem unerhörten Druck wirtschaftlicher Not, der sich von Tag zu Tag verstärkt. Soweit sie ihn je besaßen, haben sie den Glauben an die deutsche Republik restlos verloren. Die Katastrophenstimmung im Kleinbürgertum bewirkt eine Abkehr von allen bestehenden politischen Programmen. Das flache Land, von jeher bei der politischen Agitationsarbeit vernachlässigt, hört und sieht nur nationalsozialistische Versammlungsredner. Bereits im Sommer 1930 setzt eine Wahlkampagne ein, die ausschließlich im Zeichen des Nationalsozialismus steht.

Kein noch so entlegenes Dorf in ganz Deutschland gibt es, in dem nicht nationalsozialistische Wahlversammlungen abgehalten werden. Die Kosten dieser Wahlpropaganda gehen in die Millionen.

Man hat ausgerechnet, daß die Nationalsozialisten insgesamt etwa 34.000 Wahlversammlungen in Deutschland abgehalten haben. Trotz allen Verschiedenheiten, die Rednergabe und das Temperament des einzelnen Agitators bedingen, ist der Tenor aller dieser Wahlreden der gleiche: „Wenn wir die Macht bekommen, werden sofort die Young-Zahlungen eingestellt. Dadurch erspart das Reich 1700 Millionen Reichsmark jährlich. Diese Ersparnis wird dazu verwendet, um die Steuern herabzusetzen. Die Gewerbesteuer wird aufgehoben. Rechnet euch selbst aus, was das für jeden einzelnen ausmacht. Wählt ihr nun lieber die Young-Parteien, die den Tribut weiter entrichten wollen, oder uns, die wir das deutsche Volk von seinen Bedrückern und den Mittelstand von seinen Steuern befreien wollen?“

Wer bezahlt die Kosten dieser Propaganda?

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