Tarifbindung: Schlechte Vorbilder
Rund ein Fünftel der Konzerne im Dax zahlt nicht nach Tarif. Die Tarifbindung ist sogar bei den Schwergewichten der deutschen Wirtschaft lückenhaft. Das zeigt eine Studie des WSI (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut – d.Red.) am Beispiel der Dax-40-Unternehmen: Immerhin sieben beziehungsweise 17,5 Prozent von ihnen sind überhaupt nicht an einen Tarifvertrag gebunden, beim Rest gilt das teilweise für einzelne Standorte oder Tochterunternehmen. Einfach verfügbare Informationen dazu gibt es nur in Einzelfällen. Eine Berichtspflicht könnte für mehr Transparenz sorgen und zur Stärkung des Tarifsystems beitragen, erwarten die Forschenden des WSI.
Die derzeitige Informationspolitik der Dax-Konzerne zum Thema Tarifbindung bewerten Thorsten Schulten, Marlena Sophie Luth und Malte Lübker als insgesamt unbefriedigend. Nur wenige Unternehmen wie Bayer, Rheinmetall, Henkel, Sartorius oder BMW gäben dazu in ihren Geschäfts- oder Nachhaltigkeitsberichten zumindest einige Basisinformationen preis. Das Gros bleibe bei dem Thema bestenfalls vage, obwohl sich die meisten Firmen in ihrer Nachhaltigkeitsberichterstattung auf die Standards der „Global Reporting Initiative“ beziehen, die Angaben zur Geltung von Tarifverträgen vorsehen.
In ihre Analyse haben die WSI-Fachleute neben Unternehmenspublikationen auch Informationen von Gewerkschaften und Betriebsräten sowie Medienberichte einbezogen. Der Auswertung zufolge liegt die Tarifbindung im Dax zwar weit über dem Durchschnitt der Gesamtwirtschaft. Bei genauerem Hinsehen zeigten sich aber „mehr oder weniger große Lücken“: Auch in mehreren tarifgebundenen Konzernen gelten für manche Teil- oder Tochtergesellschaften keine Tarifverträge.
„Dies ist oft das Ergebnis einer bewussten Unternehmenspolitik, der zufolge zum Beispiel Produktionsunternehmen bestimmte Dienstleistungen in unternehmenseigene Servicegesellschaften ausgliedern, die dann entweder einem schlechteren oder gar keinem Tarifvertrag unterliegen“, schreiben die Forschenden. Oft seien diese Bereiche zwar eher klein, und betroffenen Beschäftigten und ihren Gewerkschaften gelinge es immer wieder, dann doch Verbesserungen durchzusetzen. Tendenzen zur Aufweichung der Tarifbindung seien aber selbst in lange etablierten, milliardenschweren Konzernen unübersehbar.
Überhaupt keine Tarifverträge haben laut der Studie SAP, die Deutsche Börse, der Chemikalienhändler Brenntag, die Holdinggesellschaft Porsche SE, das Biotechnologieunternehmen Qiagen, der Wohnungskonzern Vonovia und der Onlinehändler Zalando. Jenseits des Dax machen zudem internationale Konzerne wie Tesla oder Amazon Schlagzeilen damit, dass sie für ihre deutschen Niederlassungen den Abschluss von Tarifverträgen verweigern.
Das Tarifsystem nach mehr als zwei Jahrzehnten fortgesetzter Erosion wieder zu stärken, sei ein Ziel, das nicht nur die Gewerkschaften verfolgen, so die Fachleute. Auch die EU-Kommission fordere von vielen Mitgliedsländern, darunter Deutschland, mehr Anstrengungen. Die Bundesregierung muss nach der neuen EU-Mindestlohnrichtlinie einen nationalen Aktionsplan erarbeiten, um die Tarifbindung wieder zu stärken. In diesem Zusammenhang könnten die Dax-Konzerne aufgrund ihrer ökonomischen Bedeutung und der damit verbundenen öffentlichen Aufmerksamkeit eine besondere Rolle spielen. Als ersten Schritt empfehlen die Forschenden, als Teil der Berichtspflicht Transparenz über die Geltung von Tarifverträgen vorzuschreiben. Als Ansatzpunkt biete sich die neue EU-Richtlinie für Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen an. Konkret könnten große Unternehmen verpflichtet werden, für sich und alle Tochtergesellschaften anzugeben, ob Tarifbindung besteht, welcher Tarifvertrag gegebenenfalls angewendet wird und wie viele Beschäftigte er abdeckt.
Transparenz ist der Studie zufolge auch eine wesentliche Voraussetzung für weitergehende Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung. Das gelte etwa für die Forderung, öffentliche Gelder im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe oder Wirtschaftsförderung nur an Unternehmen zu zahlen, die Tarifverträge einhalten. Und auch für Investoren, die ihr Geld nachhaltig anlegen wollen, seien entsprechende Informationen wertvoll.
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Tarifabschlüsse 2022 und 2023 in der „Zeitenwende“
Nach drei Jahren Reallohn-Einbußen wären Anfang 2022 Lohnsteigerungen oberhalb der Inflation auf jeden Fall angesagt gewesen. Vor allem brauchen die vielen Millionen Beschäftigten, die nicht tarifgebunden im Niedriglohnsektor arbeiten und die nicht bzw. für die niemand streikt, deutlich höhere Löhne.
Doch sind die Tariflöhne im Jahr 2022 um magere 2,7 Prozent (incl. Sonderzahlungen) gegenüber den Tariflöhnen des Vorjahres gestiegen. Die geringe Steigerung ist dem Wirtschaftskriegskurs des „Wertewestens“ mit seinen heftigen Inflationsschüben und mageren Tarifabschlüssen geschuldet. Diese Entwicklung hat innerhalb eines Jahres zu einem Wohlstandsgefälle um glatt ein Zehntel geführt.
Während Familien mit geringem Einkommen, die von der Teuerung am stärksten betroffene Gruppe sind, nutzen viele Unternehmen die Gunst der Stunde, um Marge und Gewinn kräftig auszuweiten und so die Inflation noch zusätzlich anzuheizen. Man kann durchaus von einer Gewinn-Preis-Spirale sprechen.
Es ist ernüchternd, was die Tarifabschlüsse seit Anfang des Jahres 2022 bis Ende des Jahres 2023 hergeben. Die Ergebnisse sind die Folge von Deutschlands Weg in eine Kriegsbeteiligung gegen Russland, der massiven Kriegsunterstützung für die Ukraine mit derzeit 50 Milliarden Euro Steuergeldern, den Sanktionen gegen Russland und einer Haushaltsplanung geschuldet, die für 2024 mehr als 90 Milliarden Euro für Militär und Waffen vorsieht als Aufrüstung im Rahmen eines Stellvertreterkrieges von NATO und USA.
In den Tarifverhandlungen sind nicht nur grottenschlechte Ergebnisse erzielt worden, sondern von den Gewerkschaftsführungen wurden teils offen, teils versteckt etliche „Neuerungen“ eingeführt. Dazu gehören beispielsweise Sonderzahlungen, längere Tariflaufzeiten, Abbau von innergewerkschaftlicher Demokratie, fragliche Rechenspiele als Legitimation von Tarifergebnissen bei den Mitgliederbefragungen, die Instrumentalisierung der Arbeitsrechtsprechung und immer mehr in sich sehr differenzierte Regelungen für einzelne Personen- und Altersgruppen, bei hohen oder niedrigen Unternehmensgewinnen und zur Verkürzung oder Erweiterung der Wochenarbeitszeit.
Die Erhebungen der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) zeigen, dass bei den Menschen, deren Lebensstandard von Tariflöhnen, Lohnersatzleistungen oder staatlichen Renten abhängig ist, der Kaufkraftschwund höher ist als die offiziellen Inflationsraten. Festgestellt wurde auch, dass die „soziale Schere“ sich durch die Inflationsprozesse im abgelaufenen Jahr 2022 weiter geöffnet hat und die Tarifabschlüsse noch weiter hinter der Geldentwertung herhinken.
Zahlen des Statistischen Bundesamts zum Stand von April 2022 zeigen, dass die Beschäftigten mit eher bescheidenen Löhnen auskommen mussten: Rund 56 Prozent verdienten weniger als 20 Euro brutto in der Stunde, das betraf insgesamt fast 22 Millionen Menschen. Fast jeder dritte Beschäftigte verdiente sogar weniger als 15 Euro pro Stunde. Hier ging es um rund 12,5 Millionen Personen. Lohnsteigerungen, die seitdem vereinbart und in die Praxis umgesetzt sind, flossen noch nicht ein. Das gilt auch für die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro zum Oktober 2022.
In einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 13. April 2023 ist zu lesen, dass die Inflationsrate in Deutschland im März 2023 bei plus 7,4 Prozent lag. Im Januar und Februar 2023 hatte die Inflationsrate noch bei jeweils plus 8,7 Prozent gelegen. Trotzdem lagen die Ergebnisse der Tarifverhandlungen im Jahr 2023 ähnlich wie im Vorjahr auf sehr niedrigem Niveau.
Eine detaillierte Darstellung fast aller Tarifabschlüsse seit Anfang des Jahres 2022 bis Ende 2023 findet sich auf der Webseite des Autors.
Übernahme aus gewerkschaftsforum.de vom 29. und 30. Januar 2024 mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Schlagwörter: Gewerkschaft, Laurenz Nurk, Tarifabschlüsse, Tarifbindung, Zeitenwende