Die Türkei war in der DDR kein großes Thema. Jedenfalls habe ich daran keine Erinnerungen. Meine erste Begegnung mit einem Türken machte ich dennoch bereits zu DDR-Zeiten: Er hieß Ali und war eigentlich gar kein richtiger Türke.
Ali war der Aliasname von Günter Wallraff, einem investigativen, sozialkritischen Journalisten aus der Bundesrepublik, der sein Buch „Ganz unten“ als Lizenzausgabe in der DDR veröffentlichen durfte. Darin ging es um prekäre Arbeitsbedingungen ausländischer Arbeitnehmer in der BRD. Mit 14/15 Jahren habe ich mir dieses Buch für 9,40 Mark Ost gekauft. Für mich war das viel Geld, wenn man bedenkt, dass ich zehn Mark Taschengeld im Monat bekommen hatte. Ali tat mir leid, weil er in verschiedenen Branchen und Unternehmen ausgebeutet und schlecht behandelt wurde. So stand es jedenfalls in diesem Buch. Es hatte mein Bild von Türken und anderen nichtwestlichen Ausländern erst einmal stark beeinflusst. Türken und nichtwestliche Ausländer aus dem sogenannten nichtsozialistischem Wirtschaftsgebiet (NSW) waren für mich fortan Menschen, die einem Leid tun mussten, weil sie als ausländische Minderheiten in Westdeutschland schlecht behandelt wurden. Besonders eklig fand ich in diesem Buch die Geschichte über die hygienischen Zustände bei McDonald’s.
Nach der Wende habe ich es dann selbst wissen und die Arbeitsbedingungen bei solchen „Türkenjobs“ überprüfen wollen. Etwa 1991 nahm ich einen Schüler-Nebenjob bei einer McDonald’s Filiale am Zoo an. Das war damals eine der größten Filialen Berlins. Ich wurde gleich am ersten Tag an die Kasse geschickt, weil ich „super Deutsch“ sprechen konnte. Ein Libanese arbeite mich ein. Der sprach auch super Deutsch. Mein Umsatzergebnis war auch super, so dass ich grundsätzlich an der Kasse weiterarbeiten sollte. Ich wurde auch manchmal in der Küche eingesetzt. Auf alle Fälle habe ich bei McDonald’s sehr saubere hygienische Zustände vorgefunden.
Das Arbeitsklima zwischen den Kollegen war gut. Niemand hatte mich da als Ossi abgestempelt und ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass die verschiedenen Nationalitäten von uns Kollegen überhaupt mal thematisiert wurden. Die Bezahlung fand ich klasse: 9,80 DM West pro Stunde, Sonn -und feiertags gab es 100 Prozent Zuschlag obendrauf. Pro Stunde! Zudem gab es noch die steuerfreie staatliche Berlin-Zulage von 8 Prozent des Bruttogehalts dazu, weil dieser McDonald’s im vormaligen West-Berliner Stadtgebiet lag. Von der damaligen Kaufkraft her war das ein hoher Stundenlohn für einen Schüler. Dafür habe ich dann auch das süffisante Lächeln von einigen Mädchen aus meinem West-Berliner Gymnasium weggesteckt, die sich am Wochenende dort von mir bedienen ließen. Da stand ich drüber und dachte mir nur, dass es ganz dumme Kühe sind, wenn sie in solch jungen Jahren schon so einen Standesdünkel an den Tag legen.
Zu Beginn der 1990er Jahre hatte ich noch einen anderen „Türkenjob“, wenn auch nur für einen Abend. In der Lichtenberger Weitlingstraße im Osten Berlins eröffnete der erste Dönerladen. Der Inhaber war ein Türke. Ich hatte mein „Ali-Bild“ noch im Kopf und war zu ihm recht freundlich. Neugierig war ich zudem auch. Wie wird denn so eine Döner Kebab hergestellt? Das Gespräch mit dem echten Ali-Türken endete damit, dass ich den Rest des Abends die Fladenbrote im Laden zurechtgeschnitten habe. Mir hat es jedenfalls Spaß gemacht und den Gästen hoffentlich auch geschmeckt. Der Türke im Dönerladen war jedenfalls völlig anders drauf als „mein Ali“ aus dem Buch. Er schien happy zu sein, sein eigenes Ding machen zu können. Zudem war er viel älter als ich. Mit ziemlicher Sicherheit werde ich ihn – aus Respekt vor den Erwachsenen – damals gesiezt haben. Als Teenager waren für mich alle „alten Menschen“ über 30 Jahre Erwachsene.
Übrigens: meine erste Türkin hatte ich bereits im Herbst 1989 kennengelernt. Vom Herbst 1989 bis zum Sommer 1990 lebte ich nämlich in Westdeutschland. Ayşegül – von uns Mitschülern einfach Ayşe genannt – war cool. Sie war einer der wenigen Mitschüler, mit denen ich in Westdeutschland eine nähere Beziehung aufbauen konnte. Ayşe war in der Bundesrepublik aufgewachsen und hatte bereits ein bundesdeutsches Ausweispapier, lange bevor ich Ossi das begehrte Dokument mit dem Adler in den Händen hielt. Sie hatte schulterlange braune Haare, war etwas frech, neckte mich oft und hatte sogar Interesse an meiner ostdeutschen Herkunftsgeschichte. Das tat mir gut, weil ich mich als Ossi von ihr „im Westen“ angenommen fühlte.
Angekommen und angenommen fühlen: Das wünsche ich heute allen jungen Menschen in Deutschland, egal ob sie in Aachen, Braunschweig oder Chemnitz leben, oder – mit beziehungsweise ohne ihre Familien – von Dresden nach Dortmund, von Hannover nach Hof oder von Plauen nach Pasewalk ziehen müssen.
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