27. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2024

Ich hatte einen Freund – Dietrich Geyer ist verstorben

von Detlef Jena

Am 19. Oktober 2023 ist der emeritierte Professor für Osteuropäische Geschichte Dietrich Geyer in Tübingen gestorben. 95 Jahre ist er alt geworden, mit lebendigem Geist und innerer Freude, dass ihn noch einige Schüler ehrten. Zwei andere Osteuropa-Professoren, Jörg Baberowski und Rainer Lindner – aus dem früher geteilten deutschen Vaterland, der eine westlicher, der andere östlicher Herkunft  – hatten 2022 die letzte Vorlesung Geyers unter dem Titel „Das russische Imperium – Von den Romanows bis zum Ende der Sowjetunion“ herausgegeben. Das war ein politisch brisantes Unterfangen, doch gerade zur rechten Zeit! Als Geyer die Vorlesung 1992/94 gehalten und mit höchster Sachkunde Russlands Genese analysiert hatte, dankten die Deutschen den Russländern überschwänglich für die Möglichkeit, im Herzen Europas wieder einen einheitlichen Staat bilden zu dürfen. Doch 2022 war Russland ob des Angriffs auf die Ukraine erneut zum erklärten Feind der NATO und EU geworden.

Zwischen der Vorlesung und ihrer Veröffentlichung hatte sich Dietrich Geyer der deutschen Geschichte zugewandt. Er war und blieb ein souveräner und integrer Wissenschaftler und konnte auch im deutschen Einigungsprozesses das menschliche Gewissen über politische Pressionen stellen. Vielleicht, weil er selbst so viel erlebt hatte.

Am 14. Dezember 1928 ist er im thüringischen Cossengrün, heute ein Ortsteil von Greiz, geboren worden. Sein späterer Erinnerungsband „Reußenkrone, Hakenkreuz und Roter Stern“ hat über die Kindheit und Jugend berichtet. Dietrich Geyer teilte das Schicksal vieler „28er“: Napola, Luftwaffenhelfer, Arbeitsdienst und auch noch Soldat. 1947 hat er das Abitur abgelegt und anschließend in Rostock Slawistik, Germanistik und Kunstgeschichte studiert. Politische Überzeugungen führten ihn 1949 nach Göttingen. Dort begann sein Aufstieg zu einem international beachteten deutschen Historiker. Das war umso bemerkenswerter, als er die Geschichte Osteuropas zum Gegenstand seiner Forschungen wählte, die ihn bis auf den renommierten Lehrstuhl an der Universität Tübingen und in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften trugen.

Die Osteuropäische Historiographie musste sich stets durch außerordentliche Leistungen behaupten, weil sie in besonderer Weise unter den Druck politischer Schwankungen geriet. Dietrich Geyer befasste sich ganz unkonventionell mit Lenin, mit der russischen Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung, mit den russischen Revolutionen und der russischen staatlichen Geschichte insgesamt, also mit Gegenständen, die im politischen Verständnis der westdeutschen Regierenden oft genug wenig Gegenliebe fanden – aber im Kontext internationaler Forschungen zur Sozialgeschichte und im Wettstreit der Systeme unverzichtbar waren.

Es waren der strenge wissenschaftliche Ernst, der überragende Intellekt, die Gelehrsamkeit, die persönliche Integrität, das ausgefeilte Methodenverständnis und das glänzende Stilgefühl, die der Persönlichkeit Dietrich Geyers in West und Ost Respekt und Gewicht verliehen.

In den politisch bewegten Wendejahren nach 1989 bewies er jenes besondere Maß an Menschlichkeit, das aus tiefen eigenen Erkenntnissen über Wege durch die Irrgärten der Geschichte erwachsen kann und auf einen wohlfeilen politischen Opportunismus auf offener Bühne verzichten darf. Wie kaum ein bundesdeutscher Osteuropahistoriker suchte er den bedachten persönlichen Kontakt zu Menschen, die gewillt waren, die Geschichte Osteuropas zu einer gesamtdeutschen Institution wachsen zu lassen, damit das Ende des Kalten Kriegs den Beginn eines europäischen Friedens eröffnen konnte. Es entsprach seinem Charakter, dass er sich einem Thema zuwandte, das im engeren Sinne nichts mit der osteuropäischen Geschichte zu tun hat, aber eben gerade darum den Historiker per se forderte, der sich ein Leben lang mit den Leiden und Freuden im Machtspiel gesellschaftlicher Kräfte auseinandergesetzt hat, der die Psychologie der „Mächtigen“ auf der Bühne des Welttheaters akribisch beschreiben konnte.

Es war eine erstaunliche Zuspitzung seiner Weltsicht, dass sein letztes großes Buch die Anfänge der Psychiatrie in Deutschland behandelte. Die Titel gebenden Begriffe Trübsinn und Raserei chiffrieren zwei Grundtendenzen eines spezifischen Krankheitsbildes, dürfen jedoch ebenso für Phänomene reklamiert werden, die den sozialpsychologischen Habitus der Gesellschaft charakterisieren: „Die eine führt von der Erfahrungsseelenkunde Berliner Kant­schüler über die psychische Heilkunde der romantischen Medizin zur naturwissen­schaftlich fundierten Psychiatrie, inspiriert vom Fortschrittsglauben des bürgerlichen Zeitalters. Die andere führt von den Narren­kästen der mittelalterlichen Städte über die Zucht- und Tollhäuser des aufgeklärten Absolutismus zu den Heil- und Pflegean­stalten des 19. Jahrhunderts.“ Bei Goethe hätte man von der höchsten menschlichen Weisheit im Spätwerk gesprochen.

Als Historiker wusste Geyer, diese Erkenntnisse wuchsen über Generationen hinweg im erbitterten Gelehrtenstreit, der an die Grundfesten westlichen Mythologie rüttelte – mit harschen Folgen für viele Menschen. Kann die unsterbliche Seele überhaupt krank werden? Wenn ja, woher rührt die Krankheit? Aus sittlichen Verfehlungen oder aus körperlichen Gebrechen? Erst die im 19. Jahrhundert langsam wachsende Einsicht, Körper und Geist als Einheit zu betrachten, löste die Psychiatrie von der allgemeinen Philosophie und verlieh ihr den Status wissenschaftlich begründeter Medizin. Doch die ethischen Probleme im Umgang mit psychisch kranken Menschen, die diszipliniert werden mussten, waren auf jeder Erkenntnisstufe neu zu beantworten.

Diese Probleme besaßen konkrete politisch-historische Ursachen. Dietrich Geyer waf die Folgen der Revolution von 1848 für die Psychiatrie in die Debatte. Hatten jene Ärzte recht, die politische Unruhen zu sozialen Epidemien oder gar Seuchen umdeuteten? „Die politische Aufregung wird in psychiatrischen Zeitanalysen unter Wahnsinnsverdacht gestellt. Das Diktum des jungen Rudolf Virchow, dass Politik nichts anderes sei als Medizin im Großen, gehört dazu.“

„Trübsinn und Raserei“ ist kein Lehrbuch zur Geschichte der Medizin. Es ist eine Geschichte des deutschen 19. Jahrhunderts und im Nachhinein von höchster Aktualität. Denn die Zeiten und Ereignisse, die Dietrich Geyer in seiner osteuropäischen Profession vertreten hat, stehen heute auf dem militärpolitischen Prüfstand einer neuen Generation, für die der Zweite Weltkrieg ferne Geschichte ist. Russlands Angriff auf die Ukraine markiert jedoch keine politische Zeitenwende. Darum hat der Krieg Dietrich Geyer auch nicht überrascht. Diese Aggression ist die Folge einer Zeitenwende, die Europa und die Welt in den Jahren 1989/91 erschüttert hat, deren Frieden stiftende Chancen jedoch vertan worden sind und deren anhaltendes Beben erneut bestätigt, dass sich seit dem Aufstieg des Moskauer Großfürstentums zum Russländischen Zartum im 16. Jahrhundert dieses Reich mit den Staaten Westeuropas im permanenten Krieg befindet – offen oder verdeckt, begleitet von seltenen Ruhezeiten, aber von beiderseitigen Hassgesängen. Es hat seither noch nie einen wirklich nachhaltigen Sieger oder dauerhaften Frieden zwischen ihnen gegeben.

Der Westen fühlte sich stets von der ihm fremden orthodoxen Autokratie bedroht. Russland empfindet das gleiche Misstrauen gegenüber der westlichen geschäftigen Pluralität, die für den Zaren im katholischen Litauen und Polen begann. Die Folge: ein Rüstungs- und Bedrohungswettlauf über Jahrhunderte hinweg, der sich nun wieder einmal entlädt – auf der Ukraine.

Die Erfahrungen der Geschichte lehren aber auch, dass Konflikte letztlich durch historische Persönlichkeiten von Format in west-östlichen Machtzentren wie Washington, Moskau, Paris oder Berlin entschieden werden. Zwei Jahre nach dem Beginn des Ukrainekriegs ist Moskau seinen Zielen näher als EU und NATO mit ihren Waffenlieferungen, Dollar- und Euro-Milliarden in der Absicht, die Macht Russlands zu brechen und die Ukraine zu inkorporieren sowie die eigene Hochrüstung nach dem historisch schon wiederholt kontraproduktiven Leitsatz „Si vis pacem para bellum“ zu forcieren.

Es ist höchste Zeit für einen Friedensschluss.

Dietrich Geyers an der Vernunft orientierte Stimme ist verstummt. Sein geistiges Erbe verlangt nach besonderer Aufmerksamkeit durch die Politik.