27. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2024

Eine Kleine, Feine

von Renate Hoffmann

Weder die Silberdistel noch der Klatschmohn, die Sumpfdotterblume noch die Wiesenschlüsselblume und die Wildtulpe – sie alle standen bereits auf dem Podest als gekrönte „Blume des Jahres“. Diesjährig fiel die Wahl jedoch auf eine bescheidene, zurückhaltende, anspruchslose, immergrüne, heimische und tapfere, in ihrer blütenreichen Vielzahl wunderschönen Wildblume. Die Grasnelke. Auserwählt von der Loki Schmidt-Stiftung, die sich deutschlandweit für den Erhalt seltener Pflanzen und Tiere einsetzt. Eine Institution, die seit 1980 auch die Benennung der Jahresblume übernimmt und nunmehr die hübsche Kleine, Feine auf den Thron öffentlicher Wertschätzung hob.

Die blühfreudige Grasnelke bleibt trotz ihrer vielen rosafarbenen, kugeligen, lustigen Blütenköpfchen / Blütenknöpfchen eine Bescheidene. Sie möchte nicht glänzen wie die strahlendblaue Wegwarte oder die violette Küchenschelle oder die gelbe Trollblume, die ebenfalls schon den begehrten Ruhmesplatz einnahmen.

Die kleine Wildblume stellt keinerlei Ansprüche an die Beschaffenheit ihres Standortes. Er möge nur sonnig und trocken sein, und ein frisches Lüftchen wird auch nicht verschmäht. Tapfer behauptet sie sich gegen harte Fröste (bis zu zweistelligen Minusgraden). Sie gedeiht auf Magerrasen, Salzwiesen, an Weg- und Straßenrändern, sogar auf Schutthalden (sofern sich dort ein Gedeih-Plätzchen findet), auf begrünten Dächern und taugt als Balkonschmuck. Ihr Wohlgefühl findet sie besonders im Steingarten, wo sie auch Furore macht; Mauerfugen werden von ihren farbigen Bändern durchzogen.

Sind die Maitage gekommen, so treibt die Grasnelke ihre rosaroten Blütenstände aus den immergrünen Blättern, die sie wie ein filigranes Polster umgeben. Welch ein schöner Anblick. Je nach Art und Züchtung kann das wuschelige Blütenköpfchen auch weiß, purpurrot, goldgelb oder gar zweifarbig erscheinen. Ein botanisches Chamäleon.

Die Feine sei eine heimische Pflanze, so ist zu lesen Was heißt das schon. Ist sie doch auf allen Kontinenten zu Hause. Dank ihrer Genügsamkeit gelingt es ihr, überall zu siedeln. Obgleich es der Zarten an manchen Ansprüchen mangelt, teilt sie das Vorhandene noch großherzig mit anderen. Vielen Insekten dient sie nämlich als wichtige und beliebte Nahrungsquelle, vorzugsweise den Wildbienen. In der Nähe der roten Blütenschar hört man das leise Summen. Die Schmetterlinge lassen sich ebenfalls gern auf den rosarot leuchtenden Grasnelkenknöpfchen nieder. Ihnen wird sogar ein eigener Falter zugesprochen, der Grasnelken-Glasflügler (als Zungenbrecher geeignet) Pyropteron muscaeformis aus der Familie der Schmetterlinge Lepidoptera – ein bisschen Latein kann ja nicht schaden…

Sie soll mit dem Ballast der Handelsschiffe übers Meer nach Europa gelangt sein, doch wurde der Grasnelkenblütenstaub schon in Erdschichten aus viel früheren Zeiten gefunden. Wie dem auch sei, nun ist sie da und erfreut Herz und Auge.

Die Kleine, Feine ist natürlich nicht namenlos, aber der ihrige führt in die Irre. Die sehr schmalen Blätter erinnern an Gräser, ohne es zu sein. Und zu den Nelken Dianthus zählt sie auch nicht. Die Grasnelke gehört zu den Bleiwurzgewächsen, was auf ihre Toleranz von Schwermetall-Rückständen im Boden hindeutet. – Unter die Lupe genommen, trägt die Schöne mit dem zärtlich roten Gewande den eleganten Namen Armeria maritima. Das hinwiederum nimmt Bezug auf ihre Bodenständigkeit in Küstenregionen und erklärt gleichzeitig ihr salztolerantes Verhalten. Je nach Ort und Aussehen hat man der Grasnelke gefällige Rufnamen beigegeben: Strand-Grasnelke, Berggrasblume, Goldröseln, Mövenblume und Meergrasblume.

Und wie es den Kleinen, Bescheidenen überall geht, sie werden bedrängt. Der Grasnelke geschieht Ähnliches. Ihr Lebensraum ist gefährdet. Die Gefahren lauern vor allem in der intensiv betriebenen Landwirtschaft und den hohen Düngergaben sowie im Verlust der Magerrasen.

Die Loki Schmidt-Stiftung gibt einen Hilferuf auf (die Wildbienen und Schmetterlinge auch). Er wird gehört: Bis zum März will ich noch warten, / dann hol ich sie in meinen Garten. / Sie soll Asyl erhalten. / Nun kann sie sich entfalten, / ganz nach Lust und Laune, / gleich rechterhand am Zaune. / Hier blüht sie bald im Schutze, /den Anderen zum Trutze.