27. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2024

Das Wurzelgeflecht beleuchten

von Jürgen Hauschke

Im Vorwort warnt der bittere Satz: „Wenig beachtet, droht die sorbische Literatur in einer dominanten [deutschen – J.H.] Umgebung unterzugehen.“

Seit dem Jahr 2000 ediert der Domowina Verlag in Bautzen die beachtenswerte Reihe „Die sorbische Bibliothek“, in der Werke des literarischen Erbes und zeitgenössische Werke in deutscher Sprache herausgegeben werden. Die Bücher haben ein angenehmes Format und sind sehr liebevoll gestaltet. Die Texte stammen unter anderen von Handrij Zejler, Jakub Bart-Ćišinski, Jurij Brězan, Kito Lorenc, Marja Młynkowa oder Jurij Koch.

Die sorbische Literatur ist geprägt von kürzeren, erzählenden Prosatexten. „Eine erste Anthologie sorbischer Kurzprosa in deutscher Sprache erschien vor mehr als sechzig Jahren [ebenfalls im Domowina Verlag, damals in der DDR – J.H.] und ist inzwischen vergessen.“ Nun also eine erneute Anthologie im selben Verlag. Die Herausgeberin konzentriert sich auf Texte, die nach 1990 entstanden sind. Die Zäsur ist durch die politischen Umwälzungen gesetzt und hat offensichtlich keine der Literatur immanente Begründung.

Nur zwei Mal geht ein Text der 22 Prosastücke über 20 Druckseiten. Die wiedergegebenen Prosagenres sind sehr verschieden.

Eröffnet wird der Band mit Jurij Brězans „Brief an meine Enkel“, 2001 geschrieben und hier erstmals auf Deutsch veröffentlicht. Sowohl konkret als auch im übertragenen Sinne beschwört der damals 85-jährige Brězan die Nachkommenden: „Vergiss nicht, woher du kommst.“ Und er erinnert an den letzten Satz seiner Erzählung „Die Schwarze Mühle“: „Weiß man, was ein Mensch tun muss? Vielleicht, dass er sein Woher und Wohin mit einem Namen nennt und dass er das eine mit sich trägt und das andere vor sich sieht.“ Im zweiten Text beschreibt der im vergangenen Jahr verstorbene Benno Budar den letzten Morgen seines Nachbarn Jurij Brězan 2006 in Horni Hajnk.

Die beherrschenden Themen sind gesetzt: Die Vergewisserung der eigenen Identität bildet eine zentrale Achse des Bandes. „Dabei geht es nicht nur um den kleinen sorbischen Kosmos, der beileibe nicht einheitlich daherkommt“, schreibt die Herausgeberin.

Jurij Koch sucht den „Mittelpunkt“ der sorbischen „Ureinwohner“ im „Kohle-Land“. In seinen beiden Texten führt er brisante Themen im Umkreis der Braunkohlegewinnung fort, die er bereits vor 1990, zum Beispiel in „Der Kirschbaum“, aufgegriffen hatte. Christian Schneider erinnert an die Zwänge bei der Gründung von Genossenschaften (LPG) in der DDR. Kito Lorenc gestattet einen Blick in seine Poetik. Angela Stachowa nähert sich in sehr poetischer Form der Dichterin Marja Grólmusec (Maria Grollmuß). Benedikt Dyrlich lässt einen Gymnasiallehrer im Spannungsfeld zwischen seinem sorbischen Vornamen Jurij und der deutschen Bezeichnung Georg verzweifeln. Seinen Text beschließt der Satz: „Es fehlen Gründe für ein glückliches Ende.“

Aber auch neuere sorbische Stimmen sind zu vernehmen. Kerstin Młynkec, bekannt geworden durch ihren Roman „Drachentochter“, fliegt in einer surealistischen Erzählung durch das vergangene Jahrhundert. Lubina Hajduk-Veljković erzählt eine kafkaesk anmutende Geschichte – „Der Sommergast“.

Róža Domašcyna reflektiert in dem Essay „Warum das alles?“ über Sprache, Nation, Schreiben: „Im sorbischen kam die literatur mit dem zeigefinger einer ständigen nationalen vergewisserung einher, im deutschen spürte ich die übermacht der literatur, fühlte mich umstellt.“ Das geht bis hin zu der Feststellung: „Meine ‚wir-erfahrung‘ ist die erfahrung der anpassung, anpassung bis zur auflösung.“ Währenddessen scheint bei den neueren Autorinnen wie Měrana Cušcyna, Dorothea Šołćina und Měrka Mětowa das „Sorbische“ thematisch nicht mehr sichtbar aufzutreten.

Die interessanten Stimmen der sorbischen nationalen Minderheit in Brandenburg und Sachsen verdienen die Aufmerksamkeit auch der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Mit Spannung ist der avisierte Band mit sorbischer Kurzprosa vor 1990 zu erwarten.

Noch eine Entgegnung an Dyrlich: Eugène Ionescos Theaterstücke wurden in der DDR zwar nicht aufgeführt, waren aber nicht verboten. 1968 wurde sein bekanntes Schauspiel „Die Nashörner“ von Volk und Welt verlegt. Es steht in meinem Bücherregal.

 

Maria Matschie (Hrsg.): Wie ein Mittelpunkt entsteht. Prosastücke. Die sorbische Bibliothek 12, Domowina Verlag, Bautzen 2023, 218 Seiten, 24,90 Euro.