Die moderne Produktwerbung in Presse, Funk und Fernsehen agiert hin wieder damit, x Prozent der Nutzer würden das beworbene Objekt seiner Wirksamkeit wegen empfehlen. Diese, für den normalen Konsumenten kaum überprüfbare „Argumentation“ ist keine Erfindung der Neuzeit. Ein besonders unverfrorenes Beispiel fiel als „Nebenprodukt“ bei Recherchen in der Stralsundischen Zeitung von 1895 auf: Die Werbung für ein sogenanntes „Volta-Kreuz“, wohl benannt nach dem italienischen Grafen Alessandro Volta, der als Begründer der Elektrizitätslehre gilt.
Die Anzeigen hatten meist den gleichen Aufbau: Dem gezeichneten Brustbild einer männlichen Person mit umgehängtem strahlenden Kreuz folgten Dankschreiben von Personen, denen das Kreuz Heilung verschafft haben sollte: Ein Herr Theode schrieb, er sei sechs Jahre an Krücken gegangen, habe dann zwei Monate ein „Volta-Kreuz“ getragen und sei nun vollständig gesund. Eine Frau, die früher wegen ihrer Leiden zeitweise Todesängste ausgestanden habe, könne, nachdem sie das Kreuz zwei Stunden trug, ihren Beruf wieder ausüben. Eine Bergmannsgattin, die 15 Jahre an Rheumatismus, Schlaf- und Appetitlosigkeit, Kreuz- und Gesichtsschmerzen litt, sei nach vier Wochen Anwendung des Kreuzes geheilt …
In der Gebrauchsanweisung für das Kreuz wurden unter anderem Gichtschmerzen, Neuralgie, rheumatische Schmerzen, Nervosität, Debilität, Lähmung, Krampf, Herzklopfen, Asthma, Augenkrankheiten, Schwerhörigkeit, Bettnässen, Hautkrankheiten, Schlaflosigkeit, übelriechender Atem, Kolik, Kopf- und Zahnschmerzen als heilbar durch das „Volta-Kreuz“ aufgeführt. Dies seien jedoch lediglich die Fälle, „in welchen die Erfahrung seine heilsamen Wirkungen zur Genüge dargethan hat und für welche unzweifelhafte Zeugnisse vorliegen“.
Als Erfinder des Kreuzes wird ein „Professor Heskier, Copenhagen, Officier und Ritter hoher Orden p. p.“ angegeben. Ob Erfinder Heskier tatsächlich existierte, muss offenbleiben. Die ihm zugeschriebenen Attribute sollten wohl den Anschein einer seriösen und deshalb glaubwürdigen Person erwecken, was vielfach gelang.
Das Kreuz wurde zu Preisen von 1,50 bis zwei Mark angeboten, tatsächlich dürfte der Materialpreis laut Deutsch-Soziale Blätter vom 20. Januar 1898 bei höchstens 20 Pfennigen gelegen haben. Es bestand aus zwei durch einen gelben Faden verbundene Metallplättchen aus Zinn und Kupfer, die auf einem Stück rotem Filz befestigt waren. Es sollte an einem seidenen Band um den Hals getragen, „in der Magengrube mit der Zinkplatte gegen den Körper gelegt werden“ und Heilung durch Strom bringen. Der Strom entstand durch Wechselwirkung der Metalle, sobald der Filz Körperschweiß aufnahm. (Die dabei entstehende Elektrizität, so eine Fachexpertise in Jahreshefte des Naturwissenschaftlichen Vereins für das Fürstentum Lüneburg, 46. Jahresbericht, Sitzung vom 18. Januar 1897, sei allerdings so gering, dass dadurch keine Heilwirkung entstehen könne.
Vor Gebrauch war das Kreuz fünf Minuten in eine Untertasse mit lauwarmem Wasser zu legen, bei gleichzeitiger Reinigung mit einem Lappen. War stärkere Wirkung gewünscht, musste statt Wasser Essig genommen werden. Das Kreuz durfte nicht verliehen werden und war ständig zu tragen, „weil es schützt und stärkt“.
Das Geschäft schien recht einträglich zu sein, allein in Berlin vertrieben laut Nummer 64 der Apotheker-Zeitung von 1897 immerhin 13 Apotheken das „Volta-Kreuz“. Im neunten Jahrgang des „Neuen Theater-Almanachs“ von 1898 warb die „Neue Münchner Kindl-Drogerie“, Künstler und Künstlerinnen sollten das Kreuz stets tragen, „denn es hält das Blut in gehöriger Cirkulation und schützt daher vor Mattigkeit und Erkrankungen“.
Bald gab es Nachahmer: „Feiht’s Electro galv. Doppel-Volta-Kreuz mit 3 elektr. Elementen“ wurde vom Patentinhaber F. Epstein in Dresden zum Einführungspreis von 1,80 Mark angeboten (Lübeckischer Anzeiger vom 18. Juni 1900). Eine „Krankenschwester“ genannte „Volta-Uhr“ mit angeblich zehnfacher Wirkung eines „Volta-Kreuzes“ wurde für zwei und drei Mark im Hochberger Bote (Emmerdingen) vom 22. Februar 1898 annonciert. Für jüdische Bürger, „die natürlich kein Kreuz auf ihrem Leib tragen mögen“ (Deutsch-soziale Blätter, Band 12, 1897), wurde der „Volta-Stern“ angeboten.
Die „Heilungsinstrumente“ waren patentrechtlich geschützt, was bei der Bevölkerung den Eindruck erwecken konnte, dass damit Nützlichkeit und Wirksamkeit des betreffenden Gegenstandes bestätigt wären. Zwar wurde bei der Patenterteilung neben Neuheit und geschäftlicher Verwertbarkeit auch geprüft, ob der Gegenstand den angegebenen Zweck erfüllt. Diese Prüfung erfolgte zu jener Zeit aber offenbar nicht immer mit der nötigen Sorgfalt. Deshalb und weil häufig auch „nur“ Musterschutz beantragt wurde, bei dem keine Prüfung der Brauchbarkeit erfolgte, konnte das „Volta-Kreuz“ patentiert oder als Warenzeichen gesetzlich geschützt werden. Und das, obwohl es „den größten Unsinn darstellt, auf den das Publikum je hereingefallen ist und woran schon sehr viel Geld verdient wurde“ (von Hansemann: „Der Aberglaube in der Medizin …“, Leipzig 1905). Ähnlich drastisch hatte es Professor Eulenburg schon 1897 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift formuliert: „Uebrigens heilt das Volta-Kreuz natürlich alles; nur gegen jene Form angeborener Geistesschwäche, die man als ’Dummheit’ zu bezeichnen pflegt, scheint es leider auch machtlos zu sein …“
Anzumerken ist, dass bei einem Teil der Menschen eine gewisse Scheu, Angst oder Bequemlichkeit bestand, sich mit bestimmten Leiden an einen Arzt zu wenden. Andere suchten Hilfe in Fällen, wo sie ihnen der Arzt nicht oder nicht in der erwarteten Art bieten konnte. Dann erschien das „Volta-Kreuz“ mit seinen Heilungsversprechen als die vermeintliche Lösung. Nicht zu unterschätzen war auch die suggestive Wirkung der Presse. Selbst die Redaktionen seriöser Zeitungen unterließen es offenbar, Annoncen zu Medikamenten und medizinischen Hilfsmitteln kritisch zu hinterfragen. Nicht zuletzt erwies es sich als schwierig, den „schmutzigen Spekulanten, bankrotten Apothekern und Kaufleuten und ehrlosen herabgekommenen Ärzten“ („Brockhaus´ Conversations-Lexikon“, Band 7, 1884) mit den damaligen gesetzlichen Bestimmungen wirkungsvoll entgegen zu treten.
Skrupellosigkeit und Geldgier der hinter den wirkungslosen Produkten steckenden Spekulanten und die Gefahr, dass Patienten den Arzt nicht oder nicht mehr rechtzeitig aufsuchten, nahmen aber schließlich derartige Ausmaße an, dass juristische Konsequenzen gegen sogenannte „Geheimmittel“ gezogen wurden. Unter solchen Mitteln verstand man anfangs solche, von denen die Hersteller behaupteten, ein besonders wirksames Medikament entwickelt zu haben, und von denen sie – um unliebsame Konkurrenz ebenso fernzuhalten wie kritische Überprüfung –Bestandteile, Herstellungsweise, Mischungsverhältnisse et cetera geheim hielten. Später galten als „Geheimmittel“ vor allem solche, die teils wegen ihrer Wirkungslosigkeit, teils wegen der betrügerischen Art ihrer Bewerbung und ihres Vertriebs nicht öffentlichen angepriesen werden durften. Das „Volta-Kreuz“ jedenfalls erschien im „Brockhaus Konversations-Lexikon“, Band Supplement, 1897, in der Liste der „Geheimmittel“ mit dem Fazit: „Wertlos und wirkungslos“.
Laut „Verwaltungsbericht des Königlichen Polizei-Präsidiums Berlin“ (Ausgabe 1891/1900) wurde bereits am 30. Juni 1887 eine Bestimmung erlassen, die eine öffentliche Ankündigung von Geheimmitteln verbot. Zu jener Zeit erfasste das von der Berliner Polizei herausgegebene Verzeichnis untersuchter Geheimmittel 260 Positionen, einschließlich des „Volta-Kreuzes“!
Ein Beispiel für die juristische Ahndung von „Volta-Kreuz“-Anzeigen stellt das Urteil der III. Strafkammer des Hamburger Landgerichts vom 27. August 1895 dar: Redakteur M. wurde für vier Veröffentlichungen von „Volta-Kreuz“-Annoncen im Hamburger Fremdenblatt zu einer Strafe von je 40 Mark und im Unvermögensfall zu einer Haftstrafe von 16 Tagen verurteilt.
Solche Maßnahmen zeigten bald Wirkung, sodass spätestens in der Liste der Geheimmittel der 6. Auflage von „Meiers Großem Konversations-Lexikon“ (1905 – 1909) das „Volta-Kreuz“ nicht mehr verzeichnet werden musste.
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