27. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2024

Auch die Evangelische Kirche hat ihren Skandal

von Stephan Wohanka

Obwohl getauft und konfirmiert bin ich aus der Evangelischen Kirche ausgetreten. Trotzdem gehe ich ab und an in Gotteshäuser; so auch vor geraumer Zeit anlässlich einer Taufe. Eine überengagierte junge Pfarrerin – und das nicht nur meinem Eindruck nach – hielt einen Gottesdienst, der mir schnell sehr klar machte, dass ich gut daran tat, der Kirche den Rücken gekehrt zu haben. Sie malte das Bild einer Menschheit, die so überaus schlecht, sündig, schuldig verstrickt sei, die eigentlich nur untergehen könne; alle machten sich an ihr und in ihr schuldig. Rettung solle und könne nur Jesus bringen. Sie formulierte so negativ, dass ich bei mir dachte: Wenn die Menschen wirklich so abgründig schlecht wären, könnte auch kein dreifaltiger Gott Erlösung bringen; er käme gegen so viel Misshelligkeit gar nicht an. Summa summarum – ich war entsetzt; das soll Christentum, Nächstenliebe sein?

Ich fragte mich – ist solch misanthropischer Inhalt einer Predigt typisch für die Kirche? Um Antworten zu finden, begann ich, religionstheoretische Schriften zu lesen. Meine Lektüre umfasste gewollt auch populäres Schriftgut; deshalb, weil das tagtägliche Bild des Christentums – soweit es von Literatur abhängt – vor allem davon geprägt ist. DER SPIEGEL schreibt: „Die Menschen lesen Hahne, weil sie Ratzinger nicht verstehen.“

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat es in der Evangelischen Kirche in größerem Ausmaß gegeben als bislang angenommen; eine umfängliche, jüngst publizierte Studie besagt, dass zwischen 1946 und 2020 geschätzt über 9.300 Kinder und Jugendliche in evangelischer Kirche und Diakonie sexuell missbraucht worden sind. Von knapp 3.500 Beschuldigten seien gut ein Drittel Pfarrer oder Vikare, so die Studie. Sie käme „für die Betroffenen Jahre zu spät“. Bei ihrer Vorstellung mahnten die Opfer kirchlichen Missbrauchs an, die „Aufarbeitung von Fällen und Strukturen noch stärker voranzutreiben […]“; auch die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung wies darauf hin, wie „mühsam Betroffene in den verschiedenen Landeskirchen und den Strukturen der Diakonie um Anerkennung und um Aufarbeitung kämpfen mussten“.

Aber – geht es tatsächlich nur um „Strukturen“? Kann dieser Missbrauch nicht auch mit obiger Misanthropie zusammenhängen? Aufschlussreich für die Antwort auf diese Frage ist ein um das Wesen der Religion zentriertes Schlüsselwort, das die amtierende EKD-Ratsvorsitzende verwandte: „Wir haben uns […] an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht“.

„Schuld“ – das war ein zentraler Begriff in der eingangs erwähnten Predigt. Bald fand ich in der Literatur Folgendes: „Schuldübernahme – das ist der einzige (Hervorhebung – St.W.) christlich mögliche Umgang mit den Folgen der Freiheit. Ein erneuter Schock! Kann man, darf man Freiheit einschließlich ihrer Folgen so umstandslos ausschließlich mit Schuld konnotieren? Hat „Umgang mit Freiheit“ nicht erst einmal etwas mit (erfolgreicher) Emanzipation, Souveränität des Menschen zu tun, ehe er unter gewissen Bedingungen auch „Schuldübernahme“ zur Folge haben kann? Fürchtet das oder zumindest dieses Christentum den „freien“ Menschen? Will es die menschliche Freiheit gar madig machen, um den Menschen schuldbefangen niederzuhalten?

Die argumentative Redlichkeit gebietet, die eben kritisch befragte Meinung zu Schuld und Freiheit in ihren Kontext zu stellen – die Entführung und Ermordung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF im Jahre 1977. Der Theologe Lutz Mohaupt bettet diesen „tragischen Fall“, den Apostel Paulus zitierend („Das Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht.“, Römer 7,18) in folgende These ein: „Es gibt eine unaufhebbare Schulddurchwirktheit aller Sozialität.“. Für ihn ist klar, dass „schon innerhalb der Geltung einer einzigen ethischen Norm […] ein ethischer Konflikt entstehen [kann], der niemals glatt aufgeht.“ Vor dem Hintergrund dieses menschlichen Verstricktseins folgert derselbe Autor: „Hier offenbart sich eine Gebrochenheit allen ethischen Handelns, die der theologischen Deutung bedarf.“. Und fährt fort: „Die Bergpredigt interpretiert es radikal. Sie befiehlt das Unbedingte, das Letzte, das Ganze. Sie ist damit nicht wirklichkeitsfremd, als übersähe sie den Zwang zum Kompromiss, sondern sie klagt diesen Zwang zum Kompromiss an. Sie offenbart die pervertierte Gestalt dieser Schöpfung und weist darauf hin, daß der Mensch ein Gescheiterter, ein Schuldiger, ein Sünder ist.“

Die Lutherische Kirche nennt sich „evangelisch“; „Evangelium“ heißt „Frohe Botschaft“. Selbst wenn Mohaupt unter dem Eindruck des Falls „Schleyer“ stand, wie ist die Behauptung, die Bergpredigt offenbare „die pervertierte Gestalt dieser Schöpfung“ und weise darauf hin, „daß der Mensch ein Gescheiterter, ein Schuldiger, ein Sünder“ sei, mit einer „Frohen Botschaft“ zu vereinbaren? Irritation pur; wie nach dem Besuch der eingangs erwähnten Predigt. Die apodiktische Sprache – „das Unbedingte, das Letzte, das Ganze, ein Schuldiger“ – zeugt darüber hinaus von einem Absolutheitsanspruch, ja trägt totalitäre Züge.

Selbstredend muss eine „freie“ oder „frei handelnde“ Person die Konsequenz ihres Tuns tragen; doch dazu gehört neben „Schuldübernahme“ wenigstens auch der Begriff der „Verantwortung“ … wie der Philosoph Peter Bieri sagt: „Die Idee der freien Entscheidung und die Idee der Verantwortung, die jemand für sein Tun trägt, sind auf das Engste miteinander verknüpft. Man kann die eine ohne die andere nicht denken.“

Ich behaupte nicht, dass das oben angesprochene misanthropische Menschenbild direkt zu den teils Jahre zurückliegenden Missbrauchsfällen führte; es prägte jedoch Denkweisen, Verhaltensmuster und Wortbilder. Diese waren die ideelle Basis, auf der Kirchenmitarbeiter zum und im theologischen Leben „erzogen“ wurden. Wenn man aber „gelernt“ hat, sich eh schon als „Gescheiterter, Schuldiger, Sünder“ zu sehen, unterminiert das moralische Hemmungen, fördert Duckmäusertum und/oder erzeugt, paradoxerweise, ein überbordendes Harmoniebedürfnis. Dann ist es zwar nicht die Regel, aber in gewisser Weise leichter, bewusst Grenzen zu übertreten und so schuldig zu werden. Desgleichen waren die Opfer aus derselben Erziehung heraus häufig von eigener Sündhaftigkeit und Schuld so überzeugt, dass sie häufig lange Jahre duldend ihre Schmach verschwiegen.

Siegmund Freud sieht in der Schuldübernahme eine „masochistische Triebbefriedigung“ – trifft hier sowohl Opfer als auch Täter – und diese wiederum als „integrierenden Inhalt des religiösen Systems“, das so zur kollektiven Neurose wird. Gleiches geißelt Friedrich Nietzsche mit dem Begriff der auf dem Acker der Religion gut gedeihenden „buckligen Demut“ und meint damit den sich erniedrigenden Gläubigen – und auch den Priester, kann man hinzufügen –, der sich dadurch erhöhen wolle. Auch nicht viel besser …

Und wenn nun schon „Schuldübernahme“ – mit der mit ihr einhergehenden Verantwortung ist es offenbar nicht weit her: Die Landeskirchen und die Diakonie müssten sich die Frage gefallen lassen, „ob sie den Missbrauch in der Evangelischen Kirche wirklich umfassend aufarbeiten wollen“ – so der Staatsrechtler Stephan Rixen. Die Evangelische Kirche „denkt“ wohl immer noch zu wenig „die eine ohne die andere“ (Bieri).

Beim oben erwähnten „Hahne“ handelt es sich um Peter Hahne, Diplomtheologe und Moderator, lange Jahre Funktionär der EKD. Er schrieb einen 1985 erstmalig publizierten und bis 1992 in neunter Auflage mit 155.000 Exemplaren erschienen Text von gerade einmal 60 Seiten. Diese Schrift, also massenhaft verbreitet und jetzt noch antiquarisch zu haben, scheint geradezu prototypisch für die volksnahe Umsetzung des kirchlichen Kanons zu stehen. Schaut man sich das Inhaltsverzeichnis an und überfliegt die Schrift, fällt auch hier auf: Wieder das Schwarzmalen des Menschen, verbunden mit einer (partiellen) Negation des genuin Humanen wie Vernunft und Einsicht sowie tiefes Misstrauen gegenüber dem Menschen und seinen Fähigkeiten, wiederum gefolgt von der Vorstellung einer Rettung durch Christus. Irgendwie pendelt auch dieses Christentum immer noch zwischen mittelalterlicher Höllendrohung und paradiesischer Glücksverheißung.

Was „christlicher Glaube im einzelnen auch immer sein mag, in jedem Fall will er Ermutigung zum Leben sein“, so der Theologe Heinz Zahrnt; ich wenigstens fand kaum etwas davon. Bisher zumindest ist die Institution Kirche ihrem selbst geschaffenen Menschenbild auf den Leim gegangen.