Seit etwa 20 Jahren steht die Sicherheitslage in Westeuropa unter dem Eindruck der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus. Die verheerendsten Anschläge erlebte Frankreich mit seiner großen arabischstämmigen Bevölkerung, in der sich fundamentalistische Parallelgesellschaften entwickeln konnten. Mehrfach wurde der Ausnahmezustand verhängt, der in der BRD immer noch als unvorstellbares Worst-Case-Szenario gilt. Aber auch hierzulande hat sich nach dem Anschlag 2016 auf dem Breitscheidplatz in Berlin (13 Tote) das öffentliche Leben verändert. Selbst in kleinen Provinzstädten stehen bei Veranstaltungen unter freiem Himmel, Märkten oder Volksfesten Betonpoller und andere Hindernisse bereit, um Anschläge durch hineinstoßende Fahrzeuge zu verhindern. Innenministerin Nancy Faeser betonte anlässlich einer substantiierten Terrorwarnung für den Kölner Dom an Heiligabend 2023, man möge sich nicht ängstigen, unsere Sicherheitsbehörden hätten die Lage im Griff. Unausgesprochen hinzugedacht: Und im Übrigen habe die Bedrohung nichts mit dem Islam zu tun.
In der Tat konnten nach dem Schock von 2016 zahlreiche Anschläge in der BRD mit womöglich hunderten von Toten und Schwerverletzten verhindert werden. Eine wesentliche Bedingung dieses Erfolges ist die verbesserte polizeilich-geheimdienstliche Kontrolle von extremistischen Gruppen und die Überwachung sogenannter Gefährder. Die Kämpfe in Syrien und Irak, die militärische Niederlage des Islamischen Staats und die Zerschlagung von Al-Qaida haben unter den aus Europa in die Kampfgebiete ausgereisten Anhängern einen hohen Blutzoll gefordert. Einige Hundert männliche Rückkehrer (BRD-Bürger) befinden sich unter geheimdienstlicher oder justizieller Aufsicht, Frauen und Kinder zudem in betreuender Obhut spezialisierter sozialer Einrichtungen.
Neben Personen aus dem Pool der Zugereisten (mit oder ohne Asylstatus) sind es immer wieder auch hier Geborene oder bereits länger hier Lebende, aus denen sich Gefährder und Täter rekrutieren. Wie ist es möglich, dass aus blassen frommen Jungen, gewöhnlichen Kriminellen oder auf andere Weise Gescheiterten beziehungsweise Unangepassten todessüchtige Kämpfer für den Dschihad oder eben Mörder werden, die „Allahu Akbar“ rufen und zum Beispiel schwedische Fußballfans niederstechen, nachdem in Schweden ein Koran-Buch verbrannt wurde? Nach dem Mord an dem Niederländer Pim Fortuyn (2002) und dem Terroranschlag in London (2004) griff die EU-Kommission einen Zuruf aus niederländischen Geheimdienstkreisen auf, der diese Frage beantworten sollte: „Radikalisierung!“ (siehe „,Radikalisierung’ – propagandistische Dummheit oder kluger Schachzug?“ im Blättchen 24/2016). Dieses Konzept sollte die Orientierung für das gesellschaftliche Bewusstsein verändern, da damit intrapsychische Vorgänge in den Fokus gerieten, die das weltweit hervortretende Gewaltpotenzial einer Religion unerheblich erscheinen ließ. Wer anderes in Erwägung ziehen will, erhält keine Forschungsmittel oder gilt als „islamophob“ (also psychisch gestört). Die derzeit dominierende Sozialwissenschaft, der bereits der Soziologe Friedrich Tenbruck zeitgeistbedingte „Wissenschaftsvergessenheit“ attestierte, ergriff bereitwillig den Zauberstab aus Brüssel und die damit verbundenen Zuwendungen. Seit etwa fünfzehn Jahren wird der „Mythos Radikalisierung“ (M. Logvinov) in zahllosen Klein- und Kleinststudien ausgefaltet, beschrieben und analysiert – sofern polizeilich gewonnene Daten nicht aus „sozialer Verantwortung“ der Innenressorts unter Verschluss bleiben.
Das Faszinosum des Radikalisierungsbegriffs ergab sich für Praxis und Forschung auch durch die gleichsam automatische Verbindung mit seinem Gegenbegriff. Erfahrungen im Strafvollzug wie im Alltagsleben legten nahe, dass Radikalisierungsprozesse wieder rückgängig gemacht oder zumindest gemildert werden könnten. Die Strategien sozialintegrativer Interventionen, die bereits in der kriminalpräventiven Bewegung als Erfolgsgaranten galten, belebten eine neue Welle von Projekten. Neben zahlreichen Diskussionsrunden, Informationsbroschüren, Beratungsstellen und „Awareness“-Kampagnen entstanden auch individuelle, gleichsam maßgeschneiderte Aktivitäten für Betroffene, die im Umfeld der Straffälligenhilfe und sozialen Randgruppenarbeit angesiedelt sind. Zumeist unterscheiden sie sich nicht substanziell von der bekannten Praxis der Delinquenzprophylaxe. In diesem Rahmen mögen sie auch durch das überzeugende Bekenntnis der Betreuer, dass die Gewaltphantasien und Gewalthandlungen ihrer Schützlinge nichts mit dem Islam zu tun haben, subjektive Erleichterung bewirken und zur sozialen Anpassung beitragen. Man spricht in den als erfolgreich präsentierten Fällen allerdings seltener von einer Deradikalisierung, die sich mangels Einblick in die inneren Vorgänge der Klienten nicht zuverlässig feststellen lässt, sondern von beobachtbaren Parametern wie „disengagement“. Man verschmäht auch den militärischen Ausdruck „Demobilisierung“ nicht, wenn der selbst ernannte Dschihadist ins zivile Leben zurückkehrt. Die Betreuung wird (notgedrungen) zur „Distanzarbeit“ heruntergestuft.
Zuweilen entbehren die bunten Fallgeschichten aus der Deradikalisierungsindustrie, zumeist in einem schwer lesbaren Soziologen- und Genderdeutsch verschlüsselt, nicht des hintergründigen Humors. Eindrucksvoll handhabt etwa Annika von Berg (Bundesamt für Migration) diesen Stil, den sie in ihrer Dissertation (Berlin 2021) entfaltet. Beispiel einer Kapitelüberschrift: „Salafi-Jihadist*innen als revolutionärer Akteur*innen“ [sic!]. In vier Idealtypen wird die Distanzarbeit bei jungen Mohammedanern aufbereitet. Als Beispiel diene hier der „etwas härtere Fall“ eines verhinderten Selbstmordattentäters, den die Autorin mit einem rührend altbackenen Titel versieht: „Vom Anschlagsversuch zum braven Arbeiter“. Can, so wird der neue Meister aus Deutschland genannt, habe sich aus Liebeskummer radikalisiert und dem IS angeschlossen!
„Sein Feindbild war vor allem Deutschland. Er empfand Hass, Wut und ein Bedürfnis nach Rache gegenüber dem deutschen Staat, weil er sich von diesem im Stich gelassen fühlte.“ In Syrien habe er allerdings keine Straftaten begangen, denn seine Bereitschaft zu einem Selbstmordattentat kam nicht zur Ausführung. Vielmehr sei er alsbald enttäuscht gewesen, weil er nicht die vier versprochenen Ehefrauen erhalten habe, sondern, vom IS als „unerfahrener Kämpfer“ eingestuft, nur eine Frau heiraten durfte. Des Wartens auf die Vervollständigung der Familiengründung überdrüssig sei er nach Deutschland zurückgekehrt. Im Gefängnis findet er keinen Anschluss mehr an die frühere salafistische Szene. Mit aufwändiger Rhetorik rekonstruiert die Autorin auf neun (!) terminologisch sorgfältig differenzierenden Stufen und mit flexiblem Hypothesenrepertoire die erfolgreiche Reise Cans „Vom Anschlagsversuch zum braven Arbeiter“.
Nach 15 detailreichen Seiten fasst sie schließlich bündig das hoffnungsvolle Resultat zusammen: Cans und ähnlicher Mitgeschwister „Identifizierungsversuch als partiell distanzierte*r Extremist*in scheitert aufgrund eines multifaktoriellen Zusammenwirkens von Schlüsselereignissen, kognitiver Dissonanz und Gruppendynamiken der in- und out-group und führt in der Folge zu der vollständigen Demobilisierung und Deradikalisierung.“ Seiner Religion stehe er nun sogar gleichgültig gegenüber! Wir räumen ein, dass der Aufenthalt in einem deutschen Knast und die intensive Zuwendung sensibler „Berater*innen“ (sicherlich doch: Beraterinnen) eine günstige Wirkung auf Can gehabt haben könnte. Zu hoffen ist, dass „der brave Arbeiter“ das Resümee seiner erfolgreichen Reintegration in die deutsche Gesellschaft niemals lesen wird, damit er sich nicht erneut radikalisiert …
Schlagwörter: Islam, Radikalisierung, Sicherheitslage, Terrorismus, Werner Sohn