Zum Ende vorigen Jahres verstarb Wolfgang Schäuble. Man darf ihn getrost einen Konservativen nennen. Die Elogen auf ihn waren hunderte; jedes Medium, das auf sich hält, war dabei. Was nicht verwundert – war der Verblichene doch seit 1972 über 14 Wahlperioden und 51 lange Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages; solange wie keiner vor ihm und aller Voraussicht nach auch keiner nach ihm. Er bekleidete hohe Staatsämter, vermochte packende Reden zu halten. Und, und, und… Mit einem Begriff wird sein Name und sein politisches Handeln für immer verbunden bleiben – mit der „Schwarzen Null“; Synonym für rigide, ideologiegetriebene Sparorgien im Bundeshaushalt. Zu ihr kam es 2014; Schäuble war damals Bundesfinanzminister im Kabinett Merkel III.
Schon bald darauf setzte die sachliche Kritik ein. So beklagte beispielsweise Roland Schäfer, Bürgermeister in Bergkamen und bis Juni 2017 Präsident des Städte- und Gemeindebundes: „Wir haben einen Investitionsstau in der öffentlichen Infrastruktur – also Schulen, Kindergärten, aber auch Straßen, öffentliche Plätze in kommunalem Besitz von 136 Milliarden Euro. Das schieben wir vor uns her, Infrastruktur wird auf Verschleiß gefahren, einfach weil das Geld nicht da ist“. Es sollte nicht die einzige Kritik bleiben.
Hier soll jedoch der ideelle, der ideologische Hintergrund der Schwarzen Null ausgeleuchtet werden, die eher zufällig in die Welt gekommen ist. Man habe „irgendwann mal gesagt, wir nehmen die Schwarze Null, weil die so eindeutig ist“, erinnerte sich Schäuble. Als sich seine Mitarbeiter später in Form einer riesigen Null aufstellten und ihm ein Foto der Aktion zum Abschied aus dem Amt überreichten, fand er das nur halbwegs lustig. Diese Beiläufigkeit ihrer Einführung steht im Gegensatz zur politischen Bedeutung, die die Schwarze Null bis heute noch hat. Und dazu, wie Schäuble sie sich doch zu eigen machte …
In den Wirtschaftswissenschaften wird bekanntlich über viele Themen unendlich gestritten; eines davon ist die Frage, wie hoch die Staatsschulden in einem modernen Industrieland eigentlich sein sollten oder könnten. Es gibt kein sinnvolles ökonomisches Argument für die Schwarze Null – also dafür, den Staatshaushalt jedes Jahr auszugleichen. Ein Staat definiert sich über seine Aufgaben; Kredite sind wie Steuereinnahmen ein Mittel zur Finanzierung dieser Aufgaben. Welcher Anteil durch Kredite und welcher durch Steuereinnahmen finanziert werden sollte, hängt von vielen Faktoren ab; beispielsweise von der Höhe der Zinsen. Auch von der allgemeinen Wirtschaftslage. Oder davon, ob eine staatliche Investition eher heutigen oder künftigen Generationen zugutekommt. Aber kein ernstzunehmender Ökonom würde empfehlen, grundsätzlich auf Kredite zu verzichten.
Die Schwarze Null ist vielmehr ein Beispiel dafür, wie sich politische Diskurse verselbstständigen können. Es ging bei ihrer Einführung jedenfalls kaum um Ökonomie. Dazu passt, dass die Parteizentrale der CDU Ende 2019 twitterte, man stehe zum „Fetisch“ eines ausgeglichenen Haushalts. Fetisch? Der Fetischismus ist der Glaube daran, dass bestimmten Gegenständen übernatürliche Kräfte innewohnen. Nicht der Gegenstand selbst – hier die Schwarze Null – zählt, sondern dessen symbolische Bedeutung – das Metaphysische drumherum. Der Politologe Thomas Biebricher nannte die Schwarze Null ein Jahr vorher die „letzte intakte konservative Kernposition“.
Haushaltsdisziplin wurde so zu einer politischen, ja ideologischen Frage umgedeutet; man konnte sich – und kann das immer noch – emotional daran festklammern in einer Welt, die von Unsicherheiten, Zumutungen und multiplen Krisen geprägt ist. Sucht man also nach den Ursachen für die große Popularität der Schwarzen Null, so ist eine der Quellen ein letztlich psychologisch bedingter Glaube, Halt zu finden in ausgeglichenen Haushalten.
Bereits im Bundestagswahlkampf 1980 hatte Helmut Kohl die Notwendigkeit einer „geistig-moralischen Wende“ gefordert, um sich damit vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt abzusetzen, dem er eine Kapitulation vor dem Zeitgeist vorhielt. Als die schwarz-gelbe Regierung unter Kohl 1982 die Geschäfte übernahm, war der Begriff der „Wende“ in aller Munde, avancierte zum Etikett der ersten Kohl-Regierung. Mit Kohls Kanzlerwahl verband sich die Hoffnung – und Kohl schürte sie –, dass die Bundesrepublik nach einem sozialdemokratischen Jahrzehnt unter Willy Brandt und Schmidt zu ihren mit Wiederaufbau und Wirtschaftswunder verbundenen konservativen Gründungswerten zurückkehren könnte: „Ehrlichkeit, Leistung und Selbstverantwortung“. Insofern war auch die Geld- und Haushaltspolitik angesprochen.
Der Schwung und die Hoffnungen, die die Menschen mit Kohl verbanden, gingen allerdings schnell verloren. Kohl agierte unbeholfen und entscheidungsschwach; er saß die Probleme aus, sein Markenzeichen. Persönlich ging seine „Wende“ zur Ehrlichkeit auch in die Hose – in der Flick-Spendenaffäre 1983 log er vor einem Untersuchungsausschuss, was die CDU als „Blackout“ darzustellen versuchte.
Aber nicht nur das. Ohne ins Detail zu gehen – während der gesamten Kanzlerschaft Kohls trieb die Parteiflügel und Milieus die Sorge um einen konservativen Profilverlust um. Immer wieder artikulierte sich die Sorge über eine „Sozialdemokratisierung“ der CDU respektive über die Dreingabe des konservativen Kerns. Unter Angela Merkel vertieften sich diese Befürchtungen deutlich. Sie korrespondierten mit demografischen Veränderungen, die eine Öffnung respektive Liberalisierung der Christdemokratie schon aus rein strategischen Gründen für angezeigt erscheinen ließen. Hinzu kam, dass namentlich Merkel ein Pragmatismus auszeichnete, dem ideologische Festlegungen im Zweifel weit weniger wichtig waren als wahltaktische Opportunität. Dies alles zusammen führte dazu, dass die Christdemokratie konservative Positionen wie beispielsweise die Verteidigung der Kernkraft, das Bekenntnis zum allgemeinen Wehrdienst sowie die Opposition zu Mindestlohn und Frauenquote räumte; teils unter tätiger Mithilfe der SPD.
Der zentrale Befund lautet folglich, dass die Union in den Kohl- und namentlich Merkel-Jahren zunehmend darauf verzichtete, bestimmte Aspekte des Status quo zu verteidigen, die ihr bis dato stets als bewahrenswert galten. Mit einer Ausnahme: Das Bekenntnis zur öffentlichen Haushaltsdisziplin wurde zur letzten konservativen Bastion, an dem deshalb bis heute eisern festgehalten wird. An der Disziplin weniger. Der loyale Schäuble war der ideale Hüter dieses konservativ-heiligen Grals. Das Insistieren auf diesem Regime ist gewiss nicht nur konservativem Beharren geschuldet, sondern speist sich auch aus ordoliberalen Quellen, was insgesamt zu der schon angedeuteten ideologischen Überformung des Ökonomischen führte. Kern der Sache ist es jedenfalls, der Haushaltsdisziplin die anderen wirtschaftspolitischen Ziele kategorisch unterzuordnen. Wissen wir nicht aus der Geschichte, dass Austerität radikale Parteien nährt? Gerade jetzt …
Für den innenpolitischen Hausgebrauch wurden apolitische Metaphern wie eben die Schwarze Null oder auch die „Schwäbische Hausfrau“ er- respektive gefunden. Letztere leistete der verbreiteten, jedoch falschen „Haushaltsanalogie“ Vorschub, also der Gleichsetzung öffentlicher Haushalte mit Privathaushalten. So verwundert es wenig, dass die Wirkung dieser derart ideologisch überhöhten konservativen Finanzpolitik, die Sparen vor allem als moralische Tugend verstand, nicht gänzlich verpuffte, sondern sich sogar so weit etablierte, dass auch die derzeitige SPD-geführte Bundesregierung die Schwarze Null – wenigstens bisher – nicht infrage stellt. Und was die Union angeht: Es gibt bis heute weit und breit keine anderen seriösen „Kandidaten“ für typisch konservative Positionen, die in der öffentlichen Wahrnehmung mit der Union in Verbindung gebracht würden, außer eben der Schwarzen Null. Ob sich auf dieser dürftigen inhaltlichen Basis allein eine tragfähige konservative Agenda errichten lässt, ist mehr als fraglich. Der Zustand der Union belegt das klar. Wolfgang Schäuble wirkt über sein Grab hinaus; er hält das politische Copyright am Symbol Schwarze Null.
Schlagwörter: CDU, schwarze Null, Staatshaushalt, Stephan Wohanka, Wolfgang Schäuble