27. Jahrgang | Nummer 2 | 15. Januar 2024

Paul Lendvais Geschichte der Ungarn

von Holger Politt

Dem Kulturhistoriker Wolfgang Geier (1937–2023) in Erinnerung.

 

Wen hätte es nicht schon einmal ins Ungarnland gezogen! Die Lektüre lockt zu großer Fahrt durch mehr als tausend Jahre ungarische Geschichte. Übersicht wie Anschluss sichert der chronologisch gesetzte Rahmen, zurückhaltend allerdings, denn Jahreszahlen gewinnen nie die Oberhand. Die Zügel liegen sicher in der Hand des Erzählers, der sorgfältig auszuwählen weiß. Eingewebt in die Stoffmenge sind jene nützlichen Querverbindungen zur Gegenwart des Lesers, die helfende Perspektive eröffnen und das Gefühl vermitteln, nicht gänzlich in den Jahrhunderttiefen verloren zu sein. Ist nun die erste Stromschnelle ungarischer Geschichte durchfahren, folgt das nächste Fährnis und das folgende – solange bis schließlich Gegenwart aufschimmert.

Paul Lendvai lässt sich an keiner Stelle hinreißen, zu viel preiszugeben. Nie schwingt er gegen den Leser die enzyklopädische Keule, die den rasch vertrieben hätte. Der Autor beherrscht das Geschäft mit wohlverstandenem Dosieren. Von Peter Weiss ist bekannt, dass er in fremden Gefilden die fehlende Tuchfühlung zur Vergangenheit über Straßennamen herzustellen suchte. Neugierig machte ihn, welche Bedeutung die Namenstifter für ihre Gegenwart gehabt haben. Für Budapest ließe sich für diesen Zweck kaum ein besserer Weggefährte als Lendvais Ungarn-Buch denken. Es reicht, die im Buch gelernten Namen zu behalten, verlässlich werden die im dichten Straßennetz der Donaumetropole wiedergefunden.

Ein Geschichtsbuch mithin, das seine Helden in geschickter Weise gewinnend gegen ihre Zeit zu stellen weiß, weil die in der strengen Logik der Chronologie nicht versinken. Ein mit Bedacht gefügtes Ganzes, das weder mit dramatisch gesetzten Akzenten spart noch Sympathie oder Ablehnung verhehlt, das Ross und Reiter erkennbar hält.

Paul Lendvai – 1929 in Budapest geboren – entkommt im Schreckensjahr 1944 der Deportation nach Auschwitz wie dem Judenmord an der kalten Donau in Budapest. Nach dem Krieg verbleibt er in der Geburtsstadt, verlässt die Stadt und das Land aber bald nach der brutalen Niederschlagung des Aufstandes vom Herbst 1956, geht für immer nach Österreich.

Im vorliegenden Buch setzt er für das moderne Ungarn eine schmerzliche Zäsur, ohne lange herumzureden: „Ein einziges Wort markiert für alle Ungarn bis heute die größte Tragödie ihrer Geschichte: Trianon.“ Im Lustschloss von Versailles hatte Ungarn am 4. Juni 1920 das Friedensdiktat der Siegermächte entgegengenommen. An dieser Stelle tritt im Buch der Zeitzeuge dem Erzähler hinzu, ersetzt ihn schließlich ganz.

Packend der nuancierte Blick auf die historische Rolle Admiral Horthys, den Reichsverweser von 1920 bis 1945. Der habe im Versuch, Fluch und Druck von Trianon loszuwerden, das Land an die Seite Hitlers und damit in die Katastrophe geführt: „Das Regime Horthy schlitterte in eine Sackgasse, ohne einen Schutz vor dem deutschen Imperialismus zu wissen, und es vermochte die wiedergewonnenen Gebiete nicht auf Dauer zu halten.“ Für den Autor bleibt Horthy „nach wie vor eine höchst umstrittene Gestalt der ungarischen Geschichte“.

In Horthy-Ungarn nimmt die Polizei 1926 den Kommunist Mátyas Rákosi fest, das Gericht verurteilt ihn zu achteinhalb Jahren Gefängnis. 1935 kommt der Häftling nicht etwa frei, jetzt erhält er lebenslänglich wegen der Rolle in der Räterepublik 1919. Im Oktober 1940 holt ihn Moskau schließlich aus dem Kerker, dafür kommen ungarische Truppenfahnen aus der Revolutionszeit 1848/49 nach Budapest zurück. Die Fahnen waren Kriegsbeute der Zarenarmee, nachdem die Honvédarmee bei Arad im Juli 1849 die Waffen strecken musste. Nun kehren die Revolutionsfahnen von einst ausgerechnet in das von Horthy regierte Land zurück! Und hätten sich die Kerkermauern für den Kommunistenführer bereits 1935 geöffnet, so wäre auch er in Moskau „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Opfer der großen Säuberung geworden“.

Rákosi bestimmt die Geschicke des Landes von 1945 bis zur Entmachtung im Juli 1956. Im August 1949 wird in der Budapester Innenstadt mit großem Pomp eine Straße umbenannt, ab jetzt trägt sie den Namen nach Alexej Gusew. Wer ist dieser Gusew? Der soll ein russischer Hauptmann gewesen sein, der sich im Sommer 1849 mit einigen Gleichgesinnten mutig der militärischen Niederschlagung der ungarischen Revolution verweigert habe, in Minsk dann vor dem Kriegsgericht verurteilt und hingerichtet worden sei. So der ungarischen Öffentlichkeit fälschlich aufgetischt vom Schriftsteller Béla Illés, die Parteiführung glaubt der Fabel. Zarenoffiziere auf der Seite der ungarischen Revolution! Die Rückbenennung der Straße erfolgt erst spät in den 1990er Jahren – Sas utca (Adlerstraße): „Nach dem Sturz Rákosis blieben die Straße, die Gedenktafel und das Relief mit Gusews Namen noch jahrzehntelang unangetastet.“

Lendvais Buch über die Geschichte des Geburtslandes sei empfohlen. Es vermittelt auf den vielen Seiten wertvolles Wissen, ohne das Interesse des Lesers zu verlieren. Sollte der nun künftig von Ungarn hören, es wird ihn anders ergreifen.

Paul Lendvai: Die Ungarn. Eine tausendjährige Geschichte, Ecowin (erweiterte Neuauflage), Salzburg 2022, 592 Seiten, 32,00 Euro.