27. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2024

Journalismus mit zweierlei Maß

von Marcus Klöckner

In zwei aktuellen Beiträgen hat Zeit Online mehrere sogenannte alternative Medien angegriffen. Die NachDenkSeiten seien „Wagenknechts Schreibbrigade“, der österreichische Sender Servus TV liefere „fragwürdigen Journalismus“ und der Herausgeber der Weltwoche habe den „Anti-Demokraten und Putin-Freund Viktor Orbán“ in einem Hotel „auf Augenhöhe“ getroffen.

Die Botschaft: Ein objektiver Journalismus sei von vielen dieser alternativen Medien nicht zu erwarten, weil sie gemeinsame Sache mit politisch zweifelhaften Akteuren machten. Ganz anders, so suggeriert es der Subtext, verhalte es sich bei den „Qualitätsmedien“ – wie etwa der Zeit. Aber entspricht das der Realität?

Fakt ist: Der Herausgeber der Weltwoche, Roger Köppel, hat sich mit dem ungarischen Ministerpräsidenten getroffen. Das wurde auch breit in der Öffentlichkeit kommuniziert. Demgegenüber hat die Zeit weder in der Öffentlichkeit (und schon gar nicht breit) kommuniziert, dass ihre leitenden Redakteure über viele Jahre hinweg an verschwiegenen, semi-geheimen Konferenzen teilnahmen – ja sogar im Lenkungsausschuss dieser Gruppe mit Namen Bilderberg aktiv waren. Sie haben auch selbst deutsche Politiker zu diesen Veranstaltungen eingeladen. [Bilderberg ist der Name jährlicher, informeller Treffen transatlantischer Eliten – Anmerkung der Redaktion].

Betrachten wir die Situation: 140 führende Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Geheimdiensten, Wissenschaft und Adel treffen sich seit 1954 einmal im Jahr hinter verschlossenen Türen. Der elitäre Zirkel mietet ein gesamtes Hotel und konferiert drei bis vier Tage lang über die großen Themen, die Politik und Gesellschaft betreffen.

Die Einordnung aus Sicht der Machtstrukturforschung: Keine Weltverschwörung, aber ein Hinweis darauf, dass es einen vorgelagerten politischen Formationsprozess von Machteliten gibt – fernab einer kritischen, demokratischen Öffentlichkeit.

Nun ist es Aufgabe von Journalisten, das Handeln der Mächtigen – im Sinne der Demokratie – für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Was ist von einem Medium zu halten, das genau das im Hinblick auf die Bilderberg-Konferenzen unterlässt? Von einer Zeitung, die über Jahrzehnte exklusiven Zugang zu einem Elitezirkel hat, ohne die Öffentlichkeit über dessen Agieren zu informieren?

In einem Interview mit dem Autor dieses Textes antwortete der Grünenpolitiker Jürgen Trittin auf die Frage, wie er zu Bilderberg kam: „Eingeladen wurde ich durch den Internationalen Korrespondenten der Wochenzeitung Die Zeit, Matthias Naß.“ Sollten Journalisten nicht das Handeln der Politiker kritisch kommentieren, statt ihnen den Zugang zu machtelitären Gremien zu ermöglichen – Gremien, zu denen ein Großteil der gewählten Volksvertreter niemals eingeladen wird?

Dem langjährigen Zeit-Chefredakteur Theo Sommer stellte der Leipziger Medienwissenschaftler Uwe Krüger schon 2007 die Frage: „Sie haben als Mitglied im Lenkungsausschuss über Themen und Teilnehmer mitentschieden. Überschreitet man da nicht doch eine Grenze – in dem Sinne, dass man selbst Politik macht.“
Die Antwort von Theo Sommer: „Ich sage allenfalls meine Meinung und organisiere eine Veranstaltung mit, in der andere ihre Meinung sagen können (…). Und warum sollten wir Journalisten uns ausschließen? Wir gehören nun einmal mit auf diese Bühne, in dieses Spiel hinein.“

Die breite Öffentlichkeit dürfte von diesem „Spiel“ kaum etwas wissen, denn wer kennt schon Bilderberg. Erst seit den 2010er-Jahren berichten größere Medien vereinzelt darüber. Relevant ist die um 2012 eingestellte Verbindung zwischen Zeit-Redaktion und Bilderberg auch heute noch. Schließlich zeigt das Blatt mit dem Finger auf ein nicht geheimes Treffen zwischen dem Weltwoche-Herausgeber und Victor Orbán, während das eigene Agieren in den erlauchten Hallen des Bilderberg-Zirkels im Dunkeln bleibt. Offensichtlich wittert die liberale Zeit schon journalistisch Fragwürdiges, wenn sich der Herausgeber einer konservativen Zeitung und ein konservativer Regierungschef in einem Hotel treffen. Wie würde die Redaktion, dieselben Maßstäbe anlegend, wohl ihre eigene Bilderberg-Geschichte bewerten?

In seinem 2015 erschienenen Buch „Sagt uns die Wahrheit“ äußerte sich der stellvertretende Zeit-Chefredakteur Bernd Ulrich in kargen Zeilen zu Bilderberg und anderen transatlantischen Zirkeln: „Diese Veranstaltungen, von denen nicht berichtet werden darf, haben einen bestimmten Zweck – in der Regel: offiziell die Stärkung der transatlantischen Zusammenarbeit. De facto sind sie auch ein Transmissionsriemen für die amerikanische Denkart in der Außenpolitik, für die je angesagte Politik Washingtons. In diesen Netzwerken wurde in den Jahren der Mittelost-Kriege eine Politik vordiskutiert und rationalisiert, die aus heutiger Sicht als stellenweise durchgeknallt bezeichnet werden muss.“

Für eine kritische Aufarbeitung der eigenen Verstrickungen in diese Netzwerke ist das zu wenig. 2016 merkt Zeit Online kleinlaut an, dass „in der Vergangenheit auch Redakteure der Zeit“ an den Bilderberg-Konferenzen teilgenommen hätten. Das Prinzip: Eingestehen, was nicht zu leugnen ist. Auch das ist zu wenig. Ebenfalls intransparent ist der plötzliche Rückzug. War es Einsicht, die zu dem Schritt geführt hat? Oder doch der zunehmende Druck einer Internet-Gegenöffentlichkeit?

Dieser Rückblick und die beiden aktuellen Beiträge des Blattes zu den alternativen Medien lassen erahnen: Transparenz und Glaubwürdigkeit in Verbindung mit journalistischer Objektivität sehen anders aus.
Im gleichen Geist bewegt sich auch ein Zeit-Artikel mit der Überschrift „Kurs auf die Welt“. Thema: Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik. Wohlwollend rekurrieren die Autoren auf ein Studienprojekt der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie des German Marshall Fund. Dass einer der Autoren des Artikels, Jochen Bittner, an dem Projekt beteiligt war, erwähnt das Blatt nicht – bis es entsprechende Kritik gibt. Das war 2014.

Der aktuelle Beitrag „Wagenknechts Schreibbrigade“, der sich gegen die NachDenkSeiten richtet, führt die Tradition der Intransparenz fort – inklusive journalistischer Schieflagen. Verfasst wurde er von dem Trierer Politikwissenschaftler Markus Linden. Linden wiederum hat für die Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne (LibMod) eine Studie ausgearbeitet, die die NachDenkSeiten ins Visier nimmt. Finanzielle Mittel dazu kamen vom Bundesfamilienministerium.

Ein zweites LibMod-Projekt mit dem Titel „Narrativ Check“ richtet sich ebenfalls gegen alternative Medien, und wieder ist Linden mit an Bord. Die Gründer von LibMod, die Grünen Marieluise Beck und Ralf Fücks, sind bekannt für eine pro-ukrainische Haltung mit expliziter Kritik an Russland. Die NachDenkSeiten ihrerseits sind bekannt für eine friedenspolitische Sicht auf den Krieg in der Ukraine. In Sachen Russlandpolitik stehen sich LibMod und NachDenkSeiten diametral gegenüber.

Von diesem Konflikt, der zur Einordnung des Beitrags nicht ganz unwichtig ist, erfährt der Zeit-Leser nichts. Linden wird einzig in seiner Funktion als Politikwissenschaftler angeführt. Die NachDenkSeiten haben inzwischen Beschwerde beim Presserat eingelegt.

Die Zeit-Beiträge zu alternativen Medien haben den Charakter einer Offensive. Sie wirken wie ein Rundumschlag. Analytisch einzuordnen sind sie im Hinblick auf einen seit Jahren tobenden Kampf um journalistische Deutungshoheit. Der Hauptvorwurf, den die Zeit nun ins Feld geführt hat, ist der eines ideologisch kontaminierten Journalismus aufseiten der „Alternativen“.

Was die Zeit nicht beachtet: Kein Journalist schwebt in einem ideologiefreien Raum, nicht die in den alternativen und nicht die in den Mainstream-Medien. Alle sind an einen bestimmten Denkstandort gebunden. „Ideologische Nähe“ gibt es auf beiden Seiten. Die Standortgebundenheit des Denkens ist ein soziologischer Fakt.

Doch es gibt einen Unterschied: Alternative Medien offenbaren ihre Position im ideologischen Raum ziemlich offen. Der Herausgeber der Weltwoche hat sich eben nicht im Geheimen mit Orbán getroffen. Und dass die NachDenkSeiten aufgrund ihrer politischen Ausrichtung gut mit Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine können, ist wirklich kein Staatsgeheimnis.

Gewiss: Politisch-ideologische Verflechtungen innerhalb alternativer Medien können auch Gegenstand von Kritik sein. Aber die Platzhirsche beim Anspruch auf allerhöchste Objektivität sind die traditionellen, großen Medien. Aufgrund ihrer Reichweite, ihrer Reputation und der eigenen Qualitätsansprüche erwarten Mediennutzer – zu Recht – maximale Objektivität und Transparenz.

Verdeckte Verbindungen zu transatlantischen Denkfabriken, fehlende Transparenzhinweise zu Autoren: Bei den „objektiven Qualitätsmedien“ läuft vieles aus dem Ruder. Die Zeit erkennt den Splitter im Auge ihres Bruders – den Balken im eigenen Auge kann oder will sie nicht erkennen.

Der Autor dieses Beitrags verfasst auch Beiträge für die Weltwoche und die NachDenkSeiten.

Berliner Zeitung (online), 28.12.2023. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.