27. Jahrgang | Nummer 2 | 15. Januar 2024

„Die Welt, obgleich sie wunderlich…

von Detlef Jena

 

ist gut genug für dich und mich.“ So hat es Wilhelm Busch einst gereimt. Busch hat den Vers keinesfalls auf tiefschürfende Ergebnisse fragwürdiger demoskopischer Umfragen zur allgemeinen Zufriedenheitssituation der Deutschen bezogen. Dafür haben die Menschen des 19. Jahrhunderts justament zu Silvester alte Bräuche praktiziert, deren Aussagewert denen heutiger Meinungsumfragen durchaus nicht nachstand. Zum Beweis sollen nicht etwa brandaktuelle Wünschelrutengänger in Sachen politischer und sozialer deutscher Einheit zitiert werden. Das könnte gefährlich sein und weiteren Sprengstoff über die deutschen Lande streuen. Nein, erinnern wir uns lieber an jene herzigen Jahre, da es ein Bundeswirtschaftswunderland gegeben hat.

Zum 31. Dezember 1970 hatte das Institut für Demoskopie in Allensbach wieder einmal die Hoffnungsfreu­digkeit der Deutschen ermittelt. 54 % der natürlich repräsentativ Befragten hegten Hoffnungen in die Zukunft, 18 % waren nicht ohne Befürchtungen und lediglich 17 % machten sich ernsthafte Sorgen um ihre und der Deutschen Zukunft. Die Bundesbürger waren also mit 54 % mehrheitlich hoffnungsfroh. Aber was erhofften sie sich denn? Mancher Politiker wäre auf ein Wahler­gebnis in dieser einnahmensichernden Höhe stolz und hätte – voller Vertrauen in die Mündigkeit des Wäh­lers – schnell die Koffer zur nächsten Dienstreise gepackt und … ab in die Lüfte nach Las Vegas.

Der Termin der Luftreise wäre zum Jahreswechsel günstig gewesen, denn über dem Atlantik konnte man recht uner­kannt weiteren Umfragen entgehen, weil die Silvesternacht Scharen von Geistern in den Himmel entsendet. Schimmelreiter, Bär, Holle, Storch, Klapperbock – sie alle bevölkern die Flugrouten und suchen nach Gleich­gesinnten. Indes, auch die auf der Erde verbliebenen finden keine Ruhe, weder vor Geistern, noch vor sinnenfreudigen Politikern. Dämonische Drachen, Geisterhunde und versunkene Glocken dröhnen aus der Tiefe und läuten das alte Steuerjahr aus. Und darum griffen die Menschen schon in alten Zeiten zu Licht, Feuer und Räu­cherwerk. Sie wollten die Schatten der Nacht vertreiben und Unglück durch allerlei Lärm abwenden. Gelun­gen ist das nie. Da half es auch nicht, die archaischen Formen der Meinungsumfragen zu beschwören und der eigenen Lebensangst durch Zauberwerk Hoffnungen einzuhauchen.

Die Menschen gießen Blei, ziehen in der Silvesternacht einen Kreis um sich, befragen das Gesangbuch oder eigene Träume. Ja, auch für Schatzsucher ist diese Nacht vorzüglich hoffnungsvoll, wenn auch gefährlich. Selbst das Beten ist gefahrvoll: wer sich dabei verspricht oder Unwahres sagt, stirbt im neuen Jahr! Vielleicht finden aus bei­den Gründen in der Silvesternacht keine Finanzberatungen statt. Und dann ist es Mitternacht. Das neue Jahr beginnt. Die Glocken läuten und soweit ihr Klang reicht, wird die Erde fruchtbar sein – so sagt man. Die Feiernden leeren ihre Gläser und werfen sie zum Fenster hinaus. Das bringt Glück. Alles ist gesagt und alles ist getan. Die stille Nacht deckt die trunkenen Krieger sanft zu, das neue Jahr kann kommen. Und hoffen wir, daß die Welt, so wunderlich sie auch ist, wenigstens „für dich und mich“ gut genug bleibt.

Aber das werden die nächsten Meinungsumfragen schon ermitteln und es soll sogar Leute geben, die daran glauben. Ganz sicher kann man sich aber nie sein und so kommt es, daß die alten Volksbräuche trotz der geradezu allgegenwärtigen und supermedialen Meinungsumfragenflut unverdrossen weiter praktiziert werden. Wenn es zwischen diesen beiden Phänomen jedoch so viele Gemeinsamkeiten gibt, dann sollte man schleunigst aufhören, z.B. das Bleigießen als Aberglauben abzutun. Wie dem auch sei: ein hoffnungsvolles neues Jahr!

Wird eine kleine Starthilfe benötigt? Bitte, es ist doch so: Weihnachten begeht das deutsche Volk gerne getragen, feierlich und in sich gekehrt, Silvester erlebt es ausgelassen. Silvesterfeiern können ein Spiegel der Gesellschaft sein. Am Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts feierte die damalige Reichshauptstadt Berlin den berüchtigten „Tanz auf dem Vulkan“. Neureiche Geldaristokraten und allerlei fahrendes Volk, das sich selbst für prominent hielt und einen Kometenschweif klatschsüchtiger Halbweltfiguren nach sich zog, füllte Nobelhotels, Bars und Etablissements unter roten Laternen. Berlin schwofte, ein Event jagte das andere, „man musste sich sehen lassen“ – die Damen mit den weißen Näschen und die Herren mit den weißen Gamaschen. Es war eine morbide Welt, die da in den Untergang feierte, sie wusste es nur nicht und war eben gerade deshalb so zeitlos.

Es ging auch anders, selbst ohne den moralischen Zeigefinger vorwitzig in das Tor zum neuen Jahr zu bohren. Da gab es einmal den französischen Politiker und Schriftsteller Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755-1826). Der gelernte Jurist verfasste neben wirtschaftspolitischen und juristischen Schriften sogar eine Abhandlung über das Duellieren.

Sein unbestrittenes Meisterwerk erschien Ende Dezember 1825. Es war das Buch „Physiologie du goût ou Méditations de gastronomie transcendante“ (Physiologie des Geschmacks oder Betrachtungen über transzendentale Gastronomie). Das Werk wird nicht ausreichend gewürdigt, wenn man sagt, Brillat-Savarin hat eine umfassende Abhandlung über die Philosophie des Essens und über die Tafelfreuden mit geistreich unterhaltsamen Anekdoten und Aphorismen geschrieben, die sich natürlich nicht nur auf Silvesterfeiern begrenzte. Der Autor hat auch kein reines Kochbuch verfasst, etwa in dem geschmacklosen Sinn: Kochen mit Goethe. Seine Gedanken über die aphrodisische Wirkung von Trüffeln appellieren eher an alle Sinne und führen zu einer umfassenden Betrachtung über die Lebenskunst – ganz zeitlos.

Brillat-Savarin plädierte sogar dafür, die fünf Sinne durch einen sechsten, die Liebe, zu bereichern. Er verfasste damit ein voluminöses Werk über Literatur, Chemie, Physik, über den Schlaf und die Träume sowie über das Ende der Welt – letzteres allerdings weder im Sinne abstrakter Konstruktionen über das Ende der Geschichte, noch eines fatalistischen Totentanzes etwa im „Adlon“. Das alles war ihm Mittel zum Zweck und in seinen Worten kam die Einstellung eines Mannes „mit einer leidenschaftlichen, begründeten und gewohnheitsmäßigen Vorliebe für Dinge“ zum Tragen, „die dem Geschmackssinn schmeicheln“. So ist denn das Werbewort, Brillat-Savarin hätte das wichtigste Buch über Gastronomie geschrieben zumindest einseitig.

Wenn das so wäre, hätte der Autor nicht zu derart feinsinnigen Sentenzen gelangen können: „Jemanden einzuladen heißt, sich um seine Fröhlichkeit zu kümmern und das jedes Mal, wenn er unter Deinem Dach ist.“ „Wer das Wort ‚Trüffel‘ sagt, sollte sich im Klaren darüber sein, dass es bei dem schwachen Geschlecht erotische und gastronomische Erinnerungen wachrüttelt, hingegen bei dem bärtigen Geschlecht erst gastronomische und dann erotische.“ „Das Erforschen eines neuen Gerichtes tut mehr für die menschliche Fröhlichkeit als das Erforschen eines neuen Sterns.“ „Beim Bordeaux bedenkt, beim Burgunder bespricht und beim Champagner begeht man Torheiten.“ Die Liste geistreicher Sprüche ist in dem eleganten Werk lang und darf ruhig bei Tisch verwendet werden.

Brillat-Savarin war auch ein politisch weit sehender Mensch. Dienstliche Gründe verschlugen ihn für eine gewisse Zeit in die Vereinigten Staaten von Amerika. Da er sich bemühte, die französische Kultur nicht zum Maß aller Dinge werden zu lassen, sondern jedem Volke gerecht zu werden wollte, schrieb er über die Lebenskunst anderer Länder und Menschen. Das Kapitel über die Lebensqualität in den USA ließ Brillat-Savarin von Wörtern frei und füllte es nur mit vielsagenden Punkten…

Da wird denn endgültig sichtbar, dass der Begriff der transzendentalen Gastronomie keinesfalls mit unseren landläufigen Vorstellungen vom Gaststättengewerbe identisch ist. Wenn Brillat-Savarin auch nur einmal so etwas erlebt hätte wie die heutigen weltweiten Schmieden aufgeschwemmter Brötchenklumpen, er hätte das Kapitel USA nicht einmal mit Punkten ausgestaltet. Nun denn, ein gesundes, vom Frieden erfülltes und kulinarisch gesundes neues Jahr!