Oliver Matuscheks „Ein Leben in Bildern – Das Stefan Zweig Album“ ist nicht die erste große Bildbiographie zu diesem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl meistgelesenen und meistübersetzten Autors deutscher Zunge. Vor mir liegt zum Vergleich – neben dem Katalog der Salzburger Ausstellung „Stefan Zweig – Für ein Europa des Geistes“ von 1992 und einigen kleinformatigeren Büchern – der großkalibrige, im Jahre 1993 von Klemens Renolder, Hildemar Holl und Peter Karlhuber herausgegebene Band „Stefan Zweig. Bilder, Texte, Dokumente“. Der Unterschied fällt sofort ins Auge, man kann ihn sogar ertasten: Seinerzeit Hochglanzpapier und hervorragend aufbereitete Schwarzweißbilder, jetzt raueres, stärkeres Papier, ein Pappeinband, auf dessen Vorsatzblatt man unwillkürlich den roten Fleck wegwischen möchte, den man dort wohl irgendwie verursacht hat – bis man merkt, dass der ganze Vorsatz die Reproduktion eines gefalteten Umschlagpapiers ist, Fleck inklusive. Vor allem aber die Bilder: schwarz-weiß, farbig, sepiabraun, mit ihren Rissen und Flecken oder abgeschnittenen Ecken, Manuskriptseiten mit ihren Bearbeitungen und Streichungen in unterschiedlichen Farben. Man sieht etwas vom Arbeitsprozess eines Schriftstellers, vom Entstehungsprozess seiner Werke, man spürt die Narben, die die Umzüge von Zweigs letzten Lebensjahren auf Fotos und Dokumenten hinterlassen haben. Kurz: Man bekommt nicht ein abgeschlossenes Leben und ein kanonisiertes Œuvre präsentiert, sondern wird in lebendige Prozesse hineingezogen.
Das ist ungemein reizvoll. Da lernt man gleich zu Beginn Zweig als begeisterten Amateurfotografen kennen – und wenn auch die meisten seiner eigenen Aufnahmen verloren gegangen sind, so zeigt doch eine von 1938 seine Begeisterung für die technischen Aspekte dieses Hobbys. Noch interessanter finde ich die Serie von 48 Porträtaufnahmen aus einem französischen Polyfoto-Automaten, wo er bewusst die unterschiedlichen Gesichtswinkel ausprobiert.
Matuschek geht chronologisch vor: von der Herkunft aus einer großbürgerlichen Familie Wiens über die anfänglichen dichterischen Erfolge vor dem Ersten Weltkrieg, die Zeit der großen Erfolge und die verschiedenen Stadien des Exils – zunächst London und Bath, dann New Haven, schließlich Petropolis, wo er im Februar 1942 gemeinsam mit seiner zweiten Frau Lotte Altmann in den Tod geht – bis zu Nachbemerkungen zur Familiengeschichte.
Einen Exkurs widmet der Autor der großen Biographie über Marie Antoinette, da hierzu besonders viele Dokumente vorliegen: Wir sehen seinen Benutzerausweis der Bibliothèque Nationale in Paris, Lesezeichen aus zerrissenen Briefkuverts mit Lektürenotizen, verschiedene handschriftliche und maschinenschriftliche Fassungen und schließlich die Korrekturfahnen, dazu Umschlagsentwürfe und einen Verlagsvertrag. Vor allem: Wir sehen einen Brief der Königin aus Zweigs Autographensammlung, die zeitweise tausend Objekte umfasst hat. Womit wir bei Zweig dem Sammler wären.
Diesen Brief der Marie Antoinette nämlich haben die Teilnehmer der Jahrestagung der Internationalen Stefan Zweig-Gesellschaft, die vom 28. September bis zum 1. Oktober 2023 in London stattfand, im Original sehen dürfen: neben zwei Dutzend anderen Objekten von den insgesamt etwa dreihundert, die Zweigs Erben der British Library überlassen haben. Es ist schon ein Erlebnis, diesen Brief unmittelbar neben einem Manuskript Robbespierres liegen zu sehen, neben Musikhandschriften Bachs, Händels, Haydns, Mozarts, Beethovens sowie Schuberts und neben Manuskripten von Goethe, Hölderlin, Balzac, Byron, Shelley, Robert Scott (dessen letzter Brief, acht Monate nach seinem Tode bei der Leiche gefunden) – und neben einem Redenentwurf Hitlers, den Zweig im Sommer 1933 erworben hat und dessen formaler Aufbau mich erschreckend an meine eigenen Predigtdispositionen erinnerte. Zweigs Sammlung – in Matuscheks Buch sind Autographen von Beethoven, Schubert, Goethe und Napoleon, Balzac und Kafka abgebildet – zeigt, wie bei ihm, ähnlich wie bei vielen anderen Juden seiner Schicht, die mosaische Religion völlig durch eine bürgerliche Bildungsreligion ersetzt war. Davon zeugen beeindruckend auch die geretteten Teile seiner Bibliothek, die die mittlerweile 94-jährige Eva Alberman, die Nichte von Zweigs zweiter Frau und seine Erbin – ein Bild von ihr als Kind auf einer Bank neben Onkel und Tante hat Matuschek in sein Buch aufgenommen –, den Teilnehmern der Tagung in ihrem Haus präsentierte.
Matuschek, der sich als Autor einer Zweig-Biographie und als Herausgeber von dessen Briefen einen Namen gemacht hat, erfuhr von der Familie Alberman und vielen anderen Unterstützung. Viele der in diesem Band publizierten Fotos waren bislang unveröffentlicht, andere, allzu bekannte, hat er bewusst weggelassen – darunter jenes der Polizei vom 23. Februar 1942, das das aneinander geschmiegte Paar Stefan und Lotte Zweig auf jenem Bett zeigt, auf dem sie sich mit Veronal das Leben genommen haben. Für dieses Auswahlverfahren hat Matuschek, als er das Buch drei Wochen vor seinem Erscheinen auf der Londoner Tagung vorstellte, einhellige Zustimmung gefunden.
Der Band lässt mich spüren: Stefan Zweig hat meine geistige Entwicklung seit der Jugendzeit, seit der Lektüre der „Sternstunden“, des Castellio- und des Erasmusbuches, der Essays über Dostojewski, Nietzsche und Montaigne, und – nach eindringlicher Empfehlung meines noch vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Vaters – der „Welt von Gestern“ (erst später kamen dann die großen Biographien und Romane hinzu) mehr geprägt, als ich dachte: sein humanistischer Pazifismus, sein Toleranzgedanke, sein europäischer Kosmopolitismus. Und seinem Vorbild ist es wohl auch zuzuschreiben, dass meine eigene schriftstellerische Arbeit fast ausschließlich auf Biographien und Essays beschränkt blieb. Freilich: Dass einem eine geistige Welt geschenkt wird, dazu muss man einen Autor oder eine Autorin schon selbst lesen – ein Buch wie das von Matuschek kann einem nur Anregung zur Lektüre geben oder einen im Nachhinein dankbar stimmen. Letzteres ist ihm bei mir gelungen.
Oliver Matuschek: Das Stefan Zweig Album. Ein Leben in Bildern, Benvenuto Verlag, Salzburg/Wien 2023, 256 Seiten, 30,00 Euro.
Schlagwörter: Hermann-Peter Eberlein, Stefan Zweig