27. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2024

Kleine Poetik der Schublade

von Viola Schubert-Lehnhardt

Die Schublade ist im Alltag oft ein unterschätztes Detail. Der Literaturwissenschaftler Christian Begemann hatte ihr seine Abschlussvorlesung 2022 an der LMU München gewidmet, und viele Menschen haben ihn daraufhin auf weitere Texte und Varianten von Schubladen sowie deren Behandlung in der Literatur hingewiesen. Daraus ist der vorliegende handliche (im Wort- und übertragenem Sinne) Essay entstanden.

Begemann beginnt mit einem Abriss der Entstehungsgeschichte von Schubladen: Diese gäbe es zwar schon seit der Antike, ihren Siegeszug hätten sie jedoch im 18. Jahrhundert angetreten – weniger in Privathaushalten als in Sammlungen, Bibliotheken und Apotheken. In der Gegenwart zeige sich jedoch eine gegenläufige Tendenz: „Mit der Digitalisierung erübrigen sich viele Schubladen bzw. Typen von Schubladen, beispielsweise in den Katalogsälen von Bibliotheken und Archiven, gelegentlich auch im Alltag.“ Wenn es die Leserin eilig hat, ist dies sicher ein Gewinn, aber mal ehrlich: Für eine leidenschaftliche Bibliotheksbesucherin gibt es nichts schöneres, als Karteikarten, möglichst in Sütterlin, in den alten Katalogen durchzuschmökern – zumindest ich bekenne mich dazu.

Schubladen dienen dem Ordnen von Dingen, die aufbewahrt und wiedergefunden werden sollen, aber auch dem Ablegen von Dingen, von denen vorerst unklar ist, wo sie eigentlich hingehören oder ob sie überhaupt von bleibendem Wert sind. Und auch wenn heute eine ganze Ordnungsindustrie entstanden ist, die sich dem Ausmisten von Überflüssigem und Nicht-mehr-Gebrauchtem widmet, kann ich mich dem Ratschlag des Autors, mit dem Ausmisten anzufangen, nur anschließen.

Schubladen, so der Autor, haben mit dem Gedächtnis zu tun – mit dem kulturellen und kollektiven, sowie dem individuellen. Bei ihren Inhalten handele es sich oft um emotional hoch besetzte Gegenstände, die man nicht wegwerfen, aber auch nicht dauernd vor Augen haben oder jedermann zeigen wolle.

Genau darum geht es in der Literatur, die nun an Hand zahlreicher Beispiele in Erinnerung gerufen wird. Über Schubladen können Figuren charakterisiert, Handlungen ins Rollen gebracht und ganze Erzählkonzepte reflektiert werden. Eingegangen wird auf den Fund der heiß begehrten Schatzkarte in Louis Stevensons Treasure Island, die Naturalien-Sammlung in Goethes Wahlverwandschaften und auf zahlreiche Autoren, bei denen in Schubladen gefundene Briefe und Dokumente die Handlung in Gang setzten (unter. .anderem bei Theodor Fontane in Effie Briest).

Aufmerksamen Leserinnen wird nicht entgangen sein, dass ich im vorhergehenden Satz ausschließlich die männliche Form gebraucht habe – denn tatsächlich sind alle aufgeführten literarischen Beispiele von Männern geschrieben. Hier hege ich die Hoffnung, dass der Autor weitere Hinweise zugeschickt bekommt und es eventuell eine weiblich entsprechend angereicherte Fortsetzung gibt.

Vielleicht regt diese spannende Lektüre noch andere an, sich mit dem Thema zu befassen, denn „der Schublade ist die Ehre einer intensiveren Beschäftigung bislang nicht zuteil geworden“. Dies gilt auch für die darstellende Kunst, wofür im Buch allerdings einige Ausnahmen enthalten sind, so wunderschöne Abbildungen von Henry Stacy Marks Where Is It? von 1882 und Salvador Dalis Le cabinet antropomorphique von 1936.

Besondere Faszination kann sowohl von der leeren Schublade, als auch natürlich von der mit Geld gefüllten ausgehen. Letzterer widmet der Autor sowohl ein eigenes Kapitel als auch das Schlusskapitel „Ausblick: Onkel Dagoberts Bett“, denn diese „reiche geizige Ente“ beginnt ihr Schlafleben in der Schublade und endet nach erfolglosen Experimenten mit zahlreichen Betten wieder in der Schublade. Die Schublade wird hier dargestellt als eigenwillige individualistische kleine Geschichte des Kapitalismus und seines Scheiterns.

Die Schublade ist also nicht nur ein Ort der Aufbewahrung, sondern auch Sinnbild einer der Sichtbarkeit entzogenen, aber potentiell wirkmächtigen Vergangenheit, die nicht abgeschlossen ist, sondern in die Gegenwart reicht. Sie kann „Giftlade“ sein, starrsinnig, Glücksfall et cetera – sorry, ich muss hier aufhören über dieses ergiebige Thema zu schreiben und in meine Schubladen sehen …

 

Christian Begemann: Kleine Poetik der Schublade, Konstanz University Press, Göttingen 2023, 146 Seiten, 20,00 Euro.