27. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2024

Fisch gegen Steinbeil

von Maritta Tkalec

Privilegien hatte der Mann doch sicherlich – Westgeld, Sonderläden mit Westwaren, Auto-Westimporte wie den Mazda und solche Sachen. Schließlich war Dietrich Lemke doch Stellvertreter des Ministers für Außenhandel. Ein Nomenklatura-Kader im Konsumparadies, wie viele DDR-Bürger im Nachwendefuror glaubten? Oder wie war das? Zugang zu einem „Sonderladen“ hatte er wirklich, dort konnte er das beliebte Radeberger Bier kaufen. Das Privileg: den Kasten ohne Anstehen und jederzeit einladen. Er konnte in Häusern des Ministeriums Ferien machen. Er hatte Dienstwagen mit Fahrer; privat blieb es beim Wartburg, den er bei einem Handwerker in der Provinz reparieren ließ. Jener Mann „mit goldenen Händen“ hatte wirklich Westgeld, und als Lemke einen schwedischen Tylö-Saunaofen wollte, besorgte der Schrauber vom Dorf dem Außenhändler einen. Das Ministerium für Staatssicherheit kam der Sache auf die Schliche, der nachfolgende Ärger wird später noch eine Rolle spielen.

Andererseits konnte der Außenhändler seiner Heimatgemeinde Vacha in Thüringen eine Zinkdachrinne besorgen, als sich der Ort für ein Jubiläum fein machen wollte. Geben und nehmen, so funktionierte der private DDR-Binnenhandel. Dietrich Lemke hat das alles aufgeschrieben und obendrein unzählige überaus spannende Details aus 38 Berufsjahren als Staatsdiener.

Sein Buch heißt „Handel & Wandel – Lebenserinnerungen eines DDR-Außenhändlers 1952 – 1995“. 1365 Seiten hat er gebraucht, um die Dinge so genau darzulegen, wie er es für das Verständnis der Zusammenhänge unverzichtbar hielt. Zugegeben, am Beginn der Lektüre stand die Sorge, über den Seiten einzunicken. So kam es nicht. Im Gegenteil, die Berichte entwickelten Sogwirkung, was an der lebendigen Schilderung der Personen und Umstände liegt, an der uneitlen Weltläufigkeit eines kulturell gebildeten und sprachkundigen Mannes, der im Vorwort den schönen Satz schreibt: „Ich leide nicht unter der Durchschnittlichkeit meiner Biografie.“ Der Glückliche!

 

Am Rand des inneren Machtzirkels

 

Für die doch recht bescheidenen, auf den Erhalt der Arbeitskraft gerichteten Privilegien – sein Gehalt als Vize-Minister muss ungefähr beim Dreifachen des DDR-Durchschnitts von 1300 Mark gelegen haben, heute verdienen Dax-Vorstände fast das 40-fache der Durchschnittsmitarbeiter – verzichtete er fast vollständig auf Freizeit; die Familie sah ihn selten. Und ob es ein Privileg war, als für den Handel mit den Ländern des sozialistischen Wirtschaftsgebietes Zuständiger nach Nordkorea, Albanien und Rumänien zu fliegen, sei dahingestellt.

Er selber hatte die Gelassenheit, selbst den schrägsten Lagen Interessantes abzugewinnen. Manchmal gab es ja auch wirklich etwas Großartiges zu sehen wie die Verbotene Stadt in Peking. Und er flog, von vielen sicherlich beneidet, dienstlich in den 1960er-Jahren viel und abenteuerlich, später durchaus komfortabler als der normale DDR-Bürger.

Dutzende Länder gehörten zu seinem Reich. Handel bedeutete darin nicht, gegen allgemein gültiges Geld etwas zu kaufen, sondern Tausch nach dem Urprinzip: ein Korb Fische gegen ein Steinbeil. Moderner hieß das „Clearingverfahren“. Es geht ungefähr und stark verkürzt so: Jedes der beiden jeweiligen Länder teilte mit, was man haben will und was man dafür geben kann.

Auf der Basis einer vereinbarten, theoretischen Währung („hätten auch Kauri-Schnecken sein können“) versuchte man, Preise zu errechnen und eine möglichst ausgeglichene Bilanz zu erreichen. Das gelang eher selten, und die DDR-Bürger merkten das am Warenangebot: an den wenig geliebten Kuba-Apfelsinen, den sehr beliebten bulgarischen Pfirsichen oder wenn Wohnungen nicht fertig wurden, weil die Badewannen aus Ungarn und der CSSR nicht kamen. Oder wenn die Schlange in der Kaufhalle immer länger wurde, weil Ungarn keine Ersatzteile für die Registrierkassen lieferte und nur noch eine funktionierte.

Für jedes Land waren jedes Jahr Handelsprotokolle auszuhandeln, unter Umständen, die so kompliziert waren wie die wirtschaftliche Lage jedes einzelnen Landes, die DDR eingeschlossen. Und das immer unter Beachtung der Weltlage im Kalten Krieg oder der Spannungen der sozialistischen Länder untereinander, zum Beispiel zwischen der Sowjetunion und China. Zwischen den Riesen der wackere Zwerg DDR. Im Felde des Handels vertreten durch Dietrich Lemke.

Lemke bewegte sich an den Rändern des inneren Machtzirkels der DDR. Der heute 90-Jährige hat etliche der Partei-Großfunktionäre persönlich erlebt, einschließlich Erich Honecker und Alexander Schalck-Golodkowski, der den devisenrelevanten West-Außenhandel in seiner Hand hatte.

Lemke hat seine eigenen Erinnerungen und Notizen nachrecherchiert. Die ausgiebige Archivarbeit nach der Wende unterscheidet ihn vom durchschnittlichen Zeitzeugen. Deshalb bietet sein Buch gut dokumentierte Zeitgeschichte. Er hatte Zeit zum Forschen und Schriftstellern, als er aus den DDR-Höhen gestürzt zunächst am Katzentisch des Bundeswirtschaftsministeriums ein paar DDR-Abwicklungs- und Transformations-Hilfsdienste leisten durfte und 1995 seinen Abschied genommen hatte.

Neben den Vorgängen in der DDR, von denen man aus einer Insiderperspektive wie dieser noch niemals so las, nehmen zwei Länder einen besonderen Platz ein: Kuba, wo Lemke in der anarchischen Zeit nach der Revolution seine ersten Sporen verdiente. Und China. Das ist heute von Belang, denn China wird zweifellos die nächsten Jahrzehnte prägen.

Vor 50 Jahren schon kannte und schätzte der DDR-Bürger China-Handtücher: aus ordentlicher Baumwolle, knallbunt mit Blumen, Mandarinenten und chinesischen Schriftzeichen. Sie brachten Farbe in spartanische Badezimmer und an den Ostseestrand – 400.000 Frottiertücher pro Jahr lieferte China, dazu Seiden- und Wollgewebe, Früchte, Reis, Soja und die oft so schwer zu besorgenden „tausend kleinen Dinge“ wie Vorhängeschlösser. Noch wichtiger, aber dem Bürger unsichtbar: Die DDR bekam Wolfram, Zinn, Antimon, Quecksilber und ähnliche Grundstoffe für die Industrie. Bezahlt wurde mit Lkw, Baggern, Kranen et cetera – das war „mehr als eine Idealstruktur“ für die DDR, schwärmte Lemke, ab 1969 als Direktionsbereichsleiter im Ministerium für Außenhandel auch für China zuständig, ab 1981 als Vize-Minister.

Selbst in Zeiten ideologischer Störungen in den 1960er-Jahren, trotz des Zerwürfnisses mit der Sowjetunion, das 1969 am Fluss Ussuri in einem Grenzkrieg gipfelte, trieb die DDR Handel mit China. Die Geschäfte liefen sachlich, pragmatisch, routiniert – und der DDR-Außenhändler erhielt mehrfach Gratis-Lehrstunden, wie man formvollendet und gesichtswahrend aus verfahrenen Situationen herauskommt. Dietrich Lemke hat Geschichten zu erzählen!

Zum Beispiel von tausend roten Analysewaagen für China. Oder von Begegnungen mit Fidel Castro und Che Guevara aus den Anfangszeiten des DDR-Handels mit Kuba. Eine davon handelt von einem noch vor der Revolution vollständig fertig gebauten Riesenkrankenhaus in Havanna – nur die Ausstattung fehlte, also alles vom Labormaterial über Röntgengeräte bis zum Bett. Lemkes erstes großes Ding. Es sollten Hunderte weitere folgen.

Ein mehrsprachiger Handelsreisender, der auf offiziellen wie nicht offiziellen Wegen Einblicke in Länder und Sphären erhielt, in die kein Politiker schaute und von denen die DDR-Normalos nie erfuhren. Er erlebte im eigenen Aufgabenbereich, wie Erich Honecker (keine Ahnung von Wirtschaft) und Günter Mittag (widerwärtig) das Land in immer höhere Schulden und den Ruin trieben, wie die Macht im Staate „wanderte“, weg von der Regierung unter Ministerpräsident Stoph hin zu den Parteimächtigen wie Mittag. Dietrich Lemke hält das Politbüro für „das Ergebnis einer Negativauslese“.

Von einem Verlag wollte er sich nicht dreinreden lassen, und so brachte der Handelsrat a.D. sein Großwerk im Eigenverlag heraus. Den eigenen Kopf durchzusetzen zählte nicht zu den Charaktereigenschaften, die einen im DDR-Kaderaufstiegssystem zuverlässig nach oben brachten. Lemke hat es offenbar in einer Mischung von „Einsicht in die Notwendigkeiten“, kluger Lageeinschätzung und fachlicher Kompetenz geschafft. Er hat es sogar geschafft, in „der Partei“, also der SED, auf niedrigster Flamme zu kochen.

Da war ein loyaler Staatsbürger am Werk, der sich in jungen Jahren bewusst gegen den Wechsel in den Westen entschieden hatte. Es wäre vor 1961 ein Leichtes gewesen, denn seine Heimatstadt Vacha an der Rhön lag im Grenzgebiet, fast in der BRD. Was ihn an der DDR überzeugte, formuliert er so: „Ich hielt die soziale Sicherheit für einen unvergleichlich hohen Wert und meinte, dass ihr Besitz die Abwesenheit anderer Rechte und Werte rechtfertigte.“ Das Land per Handel mit dem zum guten, sicheren Leben Notwendigen zu versorgen, darin sah er seine Lebensaufgabe. Und räumt nachträglich ein: „Aus heutiger Sicht war es einer meiner größten Irrtümer, die Bedeutung der sozialen Sicherheit im Volksempfinden der DDR-Bürger falsch eingeschätzt zu haben.“ Als die Wende kam, zeigte es sich, dass einer Mehrheit die soziale Sicherheit nicht reichte.

Die Sympathie für das sozialistische Verhältnis kam nicht aus der Familie. Der Vater, ein skeptischer, nachdenklicher Mann, war als Inhaber der Privilegierten Einhorn-Apotheke zu Vacha Unternehmer, eine Art Kleinkapitalist. Die Werdauer Oma nannte die Herrschenden in der DDR: „Lumpen, Wachabunden und Kommenisten“. Der Vater gab dem ehrgeizigen Sohn mit auf den Weg, dass es, erstens, nicht ohne Demokratie gehe, denn jede Ordnung ohne Demokratie müsse scheitern. Und zweitens: „Auch die Aufhebung der Klassen gewährleistet den Ewigen Frieden nicht. Wenn nicht wegen des Profits, so werden sich die Menschen die Köpfe wegen der Hautfarbe oder der Religion einschlagen … oder wegen der Weiber.“

 

Die Stasi spionierte ihn aus

 

„In die Vergangenheit blickend, rechne ich mit mir selber ab“, schreibt Lemke, und: „Ich heroisiere die DDR nicht, aber ich mache sie auch nicht verächtlich.“ Zum Abschluss noch ein Erlebnis mit dem unvermeidlichen Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Als die Ernennung zum Vize-Minister anstand, erlebte der fachlich für aufstiegswürdig erklärte Kader eine monatelange Hängepartie. Was war da los gewesen? Nach der Wende rekonstruierte der Autor, was er vorher nicht wissen konnte aus den Akten der Gauck-Behörde. Da hatte doch ein MfS-Späher berichtet, der L. habe auf dem Parkplatz am Ministerium „Kontakt“ mit der Fahrerin eines beigefarbenen Mercedes mit Westkennzeichen gehabt. Überaus verdächtig. Die Fahndung ergab, dass es sich um eine Sparkassendirektorengattin aus Frankenberg in Hessen handelte. Lemke erinnerte sich, dass ihn eine Frau, die sich verfahren hatte, nach dem Weg fragte. Und dann war da noch die Sache mit dem Saunaofen, die die MfS-Brieföffner ausspioniert hatten. Da war doch klar: Lemke ist ein unsicherer Kantonist.

Das grandiose Wissen reichte schließlich nicht aus, die Karriere zu bremsen. Im internen Briefverkehr heißt es: „Eine Ablehnung müsste konkret begründet werden“ und „unter diesen Umständen werden wir nicht ablehnen können“. Ein solcher Staat konnte nicht überleben. Die Kapitel, in denen der Niedergang der DDR, auch des Handels, nachgezeichnet werden, gehören zum Spannendsten des Buches. Eine erstklassige Quelle für ergebnisoffen forschende Historiker.

 

Dietrich Lemke: „Handel & Wandel – Lebenserinnerungen eines DDR-Außenhändlers 1952 – 1995“, Selbstverlag, 1365 Seiten, 34,80 Euro; zu beziehen über das Internet.

 

Berliner Zeitung, 21.09.2023. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.