26. Jahrgang | Nummer 26 | 18. Dezember 2023

Der Nibelungen Not

von Detlef Jena

In jedem Jahr, wenn der Oktober dräut, der Herbstwind über die Windräderparks weht und die Grünschnitt-Kompostanlagen mit bunten Blättern geflutet werden, versammeln sich Repräsentanten von Parlament, Konzern und Altar in der Metropole eines unserer Bundesländer und gedenken der feinen eigenen Leistung, die deutsche Einheit so fabelhaft und allen Krisen zum Trotz arrangiert und finanziert zu haben. Das schönste Geschenk der deutschen Geschichte und des Schicksals überhaupt sei ihnen eigen, sagen sie!

Während der gemeine Mann derweil allerorten auf den Plätzen und Gassen dankbar jubelt, mischen sich leider immer wieder unnütze Bedenkenträger in die feierliche Szene. Nicht das zügellose Freiwild und der soziale Abschaum in den multimedialen Netzwerken ist gemeint. Auch nicht die seit Jahrhunderten endlose akademische Debatte, worin der politische Sinn und Inhalt der legendären Nibelungen Not für unsere Zeitenwende bestehen.

Eine besonders üppige Gefahr für das moderne demokratische Gemeinwesen geht vielmehr von einem Moloch aus – der medial diktierenden Zufriedenheits-Umfrage! Tag für Tag prasseln Umfragen von privatwirtschaftlichen Interessenträgern und öffentlich-rechtlichen Manipulatoren auf das Volk ein und deklamieren mit Studien, Zahlen und bunten Balken ohne Ende, was dieses ahnungslose Volk glauben darf und soll. Keine Partei spaltet die demokratische Gesellschaft mehr, als die anmaßende und marktorientierte Sucht nach dem politischen Ranking. So grummelte es auch heuer: Na, haben wir denn wirklich die wahre Einheit Deutschlands vollzogen? Die Zweifel werden lauter und lauter, seitdem eine blau gefärbte Partei fortschreitend von West nach Ost und von Ost nach West zurückkehrend diktatorische Alternativen zur Marktkonformität der Bundesrepublik verspricht. Sie kann darauf bauen, dass man es heute in der Shoppingunkultur mit den historischen Lasten des einstigen zwölfjährigen Reichs nicht mehr so genau nimmt – wie es die jüngste bayrische Flugblatt-Affäre demonstriert hat. Diese blaue Partei hat es nicht weiter schwer, trotz der markigen Abgrenzungssprüche parteipolitischer Mitbewerber aus der sogenannten Mitte. Deutsch-deutsche Niveauvergleiche werden nur in marktgerechten Segmenten reklamiert – bei Lohn, Preis, Profit – und ignorieren brav politische Grundfragen unserer Zeit. Von ethischen Werten gar nicht zu sprechen.

Justament zum Einheitsfest 2023 ist ein Dokument in der Öffentlichkeit erschienen, das die Absurdität der manipulierten Einheitsbeschwörungen ungewollt auf den blamablen Tiefpunkt befördert. Das „Deutsche Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung“, ein Ziehkind des bundesdeutschen Familien-Ministeriums, hat, bildlich gesprochen, das heutige deutsche Volk quasi, vornehm ausgedrückt, mit einer antiken Kommode verglichen. Die hat viele Fächer, sagen wir einmal, zwei Hauptfächer: Ost- und Westdeutsche werden darin jeweils eingelagert. Aber wir müssen darüber natürlich reden, reden, reden …und wenn dabei auch Deutschlands Zukunft zerredet wird. Egal, Hauptsache, die Studie verkauft sich gut. Also gibt es auch noch Unterfächer, ebenfalls hübsch getrennt nach West und Ost, nach Geo…, Sozio…, Emo… und weiteren unsinnigen Kategorien der Deutschen die auf ein Ergebnis hinauslaufen: Die Deutschen sind noch sehr weit davon entfernt, sich gesamtdeutsch fühlen zu dürfen. Doch das hat ja gerade den gewaltigen Vorteil für die einigende Marktwirtschaft. Differenzierte Interessen erlauben weit gestreute Warenströme, die zum ungebremsten Shopping ermuntern: Sie wollen doch auch die Produkte Ihrer Region kaufen! Zielbewusst sekundiert das öffentlich-rechtliche ZDF: „Wer kann sich am meisten leisten – Wie hoch ist die Kaufkraft in Ihrer Region?“ Da haben wir den Beweis, woran dem ehrenwerten Institut mit seiner Pseudo-Analyse gelegen ist . So geht Demokratie in Deutschland. Darauf wären die honorigen Autoren aus dem „Bundesamt für magische Wesen“ nicht verfallen.

Der Computer sträubt sich, die mit der „Studie“ verbundenen fantasievollen Spekulationen noch einmal zu wiederholen. Warum fällt einem bei diesem Casus nur Goethes „Zauberlehrling“ ein: „O du Ausgeburt der Hölle! Soll das ganze Haus ersaufen?“ Natürlich nicht!

Die Magie der deutschen Einheitsbewältigung ist keine Erfindung des einstigen Bonner Kabinetts. Sozialpolitische und wirtschaftliche Unterschiede zwischen den einzelnen deutschen Ländern hat es selbst im föderal strukturierten Kaiserreich nach 1871 gegeben. Das Reich war bekanntlich nicht durch eine nationale Idee, sondern nur durch Blut, Eisen und reiche Geldgaben an die widerspenstigen Fürsten sowie unter preußischem Diktat geschmiedet worden. Oder historisch noch tiefer gegriffen: Als in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts der Deutsche Zollverein gegründet wurde, hat das zu jahrzehntelangen strukturellen Umwandlungen in allen deutschen Ländern geführt. Da fügt es sich historisch gut ein:

Im Jahre 1989 wandten sich die Menschen zwischen Elbe und Oder vom Pfad zur gebildeten Nation ab („Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.“)und eilten ganz freiheitlich und demokratisch gestimmt in Scharen zu den Zahlstellen des zunächst in kleineren Raten sofort verfügbaren bundesdeutschen Begrüßungsgeldes. Für die angeblich notwendige Zerstörung maroder Strukturen und den zünftigen Wiederaufbau mit blühenden Landschaften hat dann die Treuhand-Anstalt im Namen der Bundesregierung gesorgt, deren segensreicher Eifer merkwürdigerweise aber auch nicht zum gesamtdeutschen Patriotismus geführt hat. Doch das ist der springende Punkt der deutschen Einheit. Wir leben in einer deutschen und europäisch reglementierten hyperbürokratisierten Welt, deren einziger Wert das Geld ist. Es gibt nichts, kein Schloss, keinen Park, kein Kunstwerk, kein Buch, keine Gaststätte und keine Bratwurst; kein historisches Ereignis und keine Philosophie, deren Bedeutung nicht allein am Geld und Umsatz gemessen wird. Der Kampf der Reichen gegen die Armen ist selbst in unserem wohlhabenden Deutschland in vollem Gange und die als Geo, Sozio oder Mento etikettierten Deutschen können diesen Makel nicht verkleistern.

Noch schlimmer: Das geeinte Deutsche Reich von 1871hat einst die europäische Sicherheitsarchitektur des Wiener Kongresses von 1815 aufgehoben und eine imperiale Großmacht geboren. Es ist unstrittig, dass die neue deutsche Einheit von 1991 ein Land mit dem Anspruch hervorgebracht hat, eine tragende Führungsrolle in der Weltpolitik spielen zu wollen. Und der sozialdemokratische Verteidigungsminister hat auch schon die Marschrichtung vorgegeben: Das deutsche Volk muss wieder auf einen Krieg vorbereitet werden. Wie im 19. Jahrhundert, als der Russe als unvermeidliche Gefahr für den Frieden in Europa betrachtet wurde und die großen weißen Männer dann angesichts ihres eigenen baldigen Ablebens, angeblich ungewollt und nichtsahnend, aber markig gegeneinander ins Feld gezogen sind. 1914 – das Jahr mit dem Beginn der Urkatastrophe.

Firmiert die Geschichte der Deutschen tatsächlich nur unter dem Motto. Der Nibelungen Not im Wandel der Zeiten oder besinnen wir uns wieder einmal?

In wenigen Tagen jährt sich der 220. Todestag Johann Gottfried Herders. Der Weimarer Generalsuperintendent hat so unendlich viele geistreiche Gedanken über Deutschland und die Deutschen hervorgebracht. Sein humanistisches Ideal eines „vergöttlichten“ Menschen von hoher Bildung und Lebensqualität konnte theoretisch als Richtschnur für die Nationsbildung der Deutschen gelten. Einer Nation, im Herzen Europas und umgeben von vielen Völkern. Heinrich Heine hat geschrieben, für Herder sind die Völker wie eine Harfe, wie die Saiten an einer Harfe und die Harfe spielt Gott. Ein aktueller deutscher Wende-Politiker namens Wolfgang Thierse hat hinzugefügt: „Die deutsche Kulturnation – das war einmal ein schönes großes Wort, das die Herzen höher schlagen ließ.“ Diese Sozialdemokraten! Hat doch gerade der Bundeskanzler verkündet, dass Deutschlands Zukunft im Zeitenwandel ausgerechnet im Osten liegen wird. Da kannte er wohl den jüngsten Spruch des Bundesverfassungsgerichts zur Finanzlage noch nicht. Aber die Politiker der blauen Partei werden es mit Vergnügen aufgenommen haben – vor den Landtagswahlen 2024, in denen sie sich die Übernahme der Regierungsgewalt in ostdeutschen Bundesländern erhoffen.