27. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2024

Berlins lackierte Abgründe

von Wolfgang Brauer

Peter Edel stellte in seiner Autobiografie „Wenn es ans Leben geht“ die Kindheitserinnerungen an den Großvater Edmund Edel an den Anfang des ersten Bandes: „Seltsamer Opa. Kleiner aufgeregter alter Herr, untadelig angezogen, mit blitzenden Manschetten über blitzscharfen Augen; ein Mephistogesicht, wie ’er’s selbst oft genug mit karikierenden Strichen gezeichnet hat, gleichsam als abschließendes Signum auf den letzten Seiten seiner über Berlins Leute und Sitten hinplaudernder Bücher und Bildbände.“ Und der Junge bemerkt, dass der Großvater bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Nazis diese Rolle übernahmen, „noch achtungsvoll gegrüßt [wurde] von allerlei Damen und Herren, die tonangebend waren am Kurfürstendamm, in Halensee und am Tauentzien, in den Villen des Tiergartenviertels, in den Theatern, Kabaretts und Bohemetreffpunkten“. Dem Enkel bleibt nur noch zu vermerken, dass dieselben Leute, deren liebevoll-distanzierter Chronist der Großvater war, ihn nach dem Januar 1933 nicht mehr kennen wollten.

Dass deren nunmehr gesellschaftskonstituierend gewordener, vorher nie verschwundener Antisemitismus sich jetzt ungestraft mörderisch austoben konnte, musste Edmund Edel nicht mehr erleben. Er starb am 4. Mai 1934. Sein Grab auf dem Berliner Friedhof Heerstraße ist nicht mehr auffindbar. Der einstige Liebling der Berliner Salons wäre nur noch wenigen Kunst- und Literaturhistorikern vertraut, wenn sich nicht immer wieder Menschen finden würden, die versuchen, Edel dem Vergessensein zu entreißen.

Einer heißt Björn Weyand. Weyand hatte sich vor einiger Zeit um Otto Julius Bierbaum verdient gemacht und legt seit 2022 Stück für Stück bei Quintus eine Edmund-Edel-Werkausgabe vor. Edels Erstlingsroman „Der Snob“ erschien 1907 in Berlin. Der Snob heißt Willy Lehmann und ist ein junger Lebemann, der weder so richtig weiß wohin mit seinem vielen Geld noch mit seinen überschüssigen Energien. Das Geld hat er natürlich nicht erarbeitet, es ist ererbt. Der Familie gehörten einst etliche Wiesen, auf denen inzwischen statt Löwenzahn und Butterblumen „Berlin W. W.“ wuchs und gedeihliche Profite abwarf. Für Nicht-Berliner: Damit sind Charlottenburg und Wilmersdorf gemeint; dass diese Gemeinden bis 1920 selbstständige Kommunen waren, schien weder den Autor noch seine Protagonisten besonders zu interessieren. Alles, was östlich des Alexanderplatzes siedelte, interessierte auch nicht. Das hat sich bis heute inner- wie außerhalb literarischer Horizonte nicht wesentlich geändert.

Willy Lehmann jedenfalls schleppt seinen Freund Kurt, eine Art Alter Ego des Autors, nach St. Moritz zum Wintersport. Hier spielt das „1. Buch“ des Romans. Nicht weil Sport unabdingbarer Lebensbestandteil ist, Sport gehört einfach dazu, wenn man dazu dazugehören will. Und Willy veranstaltet eine ganze Menge, um zu erreichen, „dass kein Sterblicher in ihm den Sohn aus dem kleinen Gärtnerhäuschen in Charlottenburg vermuten würde“. „Leben […] ist seinen Stil finden […]“, lautet Willy Lehmanns Credo.

Gärtnerhäuschen? Charlottenburg? Das liest sich wie eine Fortsetzung von Thedor Fontanes „Irrungen, Wirrungen“. Dem ist aber mitnichten so. Wenn bei Fontane Lene Nimptsch und Botho von Rienäcker ihre große Liebe letztlich auf dem Altar des großen Geldes opfern, ändert dies nichts daran, dass da wirklich einmal „etwas war“. Bei Edels Protagonisten ist das nicht der Fall. Da ist alles Oberfläche, da muss alles nach außen hin perfekt sein. Wenn es mit der sportlichen Perfektion mal nicht so klappt – Schlitten kippen gelegentlich um –, geht man eben nach Monte Carlo. Ins Kasino, zumal in Nizza gerade Karneval ist. Lehmanns erwähntem Freund Kurt bleibt nur, das Treiben zu beobachten: „Die Frauen an den Tischen beobachtete er. Er sah durch die Puderschicht der Jungen die Leidenschaft, die urteilslose Leidenschaft. Er sah den harten Schnitt der Habsucht, der die rosigen Lippen hinunterzog, er sah aus tiefen, weichen Augen, die gewöhnt waren, liebreizend Männerherzen einzuschläfern, die wilden Lohen verzehrender Geldgier schlagen – und mit knochigen Händen verschleierte Ruinen die wenigen Geldstücke umklammern, die das Schicksal ihnen für ihren Lebensrest gelassen. – – Er sah in den Abgrund der Menschheit.“

Natürlich endet Willy Lehmann nicht wie Dostojewskis Spieler Alexej Iwanowitsch. Willy Lehmann, so verschwenderisch er scheint, achtet schon auf seine Kassenlage. Er gründet ein Theater. Genauer gesagt, er lässt sich überzeugen, ein Theater zu gründen und geht den „Neo-Intuitivisten“ auf den Leim. Diese Geschichte ist das „3. Buch“ des Romans. Edmund Edel spießt damit die Theatergründungswut in Berlin um 1900 auf. Dieses Karussell voll besetzt mit Eitelkeiten, Geldgier und überspanntem Sendungsbewusstsein lesend zu besteigen macht Vergnügen. Und als dann im „Theater der Unbewussten“ endlich die Eröffnungspremiere steigt, fühlt man sich durchaus wie in einem der heutigen Berliner „Häuser“. Das ist kein Zufall, die Snobs und Parvenus haben die Stadt wieder übernommen. Den wahren Niedergang des Berliner Feuilletons kann man daran sehen, wie es unverdrossen und einigermaßen kritikfern den aktuellen Neo-Neo-Intuitivisten huldigt. Ach Kerr, kehr wieder!

In „Mein Freund Felix“ (1914) nimmt Edel seine Leser mit auf eine Abenteuertour durch „Berlin W. W.“ in elf Kapiteln. Felix ist eine Art Potenzierung des Snobs Willy Lehmann. „Felix ist […] gut fundiert, […] kleidet sich bei einem allerersten Schneider, den er sogar bezahlt, geht zu allen Premieren in die Theater und Kinos, ist enragierter Rennbahnbesucher und verachtet weder Poker noch Bac. Er muss überall dabei sein …“

Natürlich ist Felix Sportsmann, natürlich lernt er wie alle Herren aus der Gesellschaft („Unsere Frauen wollten es“) Tango, der ist gerade Mode geworden. Und natürlich wird er Automobilist: „Denke dir – ich habe bereits einen Strafzettel, gleich am ersten Tag haben wir einen Hund überfahren.“ Man müsse „wer“ sein in Berlin, bringt Edmund Edel diesen Lebensstil auf den Punkt.  Man müsse „das Leben bezwingen“. Das koste zwar Geld – und Sand, den man den anderen in die Augen streuen müsse –, aber wer bezahlt, habe sowieso verloren. Statt Ratenzahlung bleibe man lieber alles schuldig: „Das ist der Gipfel der Eleganz.“

Was soll nun heutigen Lesern dieser Blick auf die längst vermoderte Dekadenz des späten Kaiserreichs? Edmund Edel gab vor 110 Jahren im Vorwort seines Buches „An die geneigten Leser und die schönen Leserinnen“ die Antwort auf diese Frage. Ich distanziere mich natürlich nachdrücklichst von dieser sexistisch-chauvinistisch geprägten Überschrift und zitiere sie nur, um den Zeitgeist des Jahres 1914 deutlich werden zu lassen: „Aber passen Sie auf, wenn Sie auf der Straße spazieren, vielleicht grüßt er Sie [der Autor meint seinen Helden Felix – W.B.] in der nächsten Minute schon oder er streckt Ihnen im Foyer des Theaters oder bei Soundsos auf der Abendgesellschaft die Hand entgegen – – – und ist mitten unter Ihnen, ohne dass Sie es wissen …“

Edmund Edel hat es gewusst. Er hat diese Leute mit unbestechlich-scharfen Augen durchschaut. Dass deren intellektuelle Sumpfblüten ihn einmal im Völkischen Beobachter als „Salonsemiten“ und „obszön-dekadenten“ Zeichner und Schreiber verunglimpfen würden, war folgerichtig. Und Björn Weyand, dem Herausgeber, widerspreche ich nur an einer einzigen Stelle. Er gebraucht in seinem Nachwort die Formel von einem „letzten literarischen Bummel“ durch die Alltäglichkeiten des Berliner Westens. Das stimmt hinsichtlich der zeitlichen Verortung des Buches. Hinsichtlich des Zustandes dieser Gegend stimmt es nicht. Man kann das nachprüfen. Aber nicht jeder. Diese Leute bleiben auch heute gerne unter sich.

 

Edmund Edel: Der Snob. Roman, Quintus-Verlag, Berlin 2023, 256 Seiten, 22,00 Euro.

 

Edmund Edel: Mein Freund Felix. Abenteuerliches aus Berlin W. W., Quintus-Verlag, Berlin 2023, 152 Seiten, 20,00 Euro.